# taz.de -- Deutungskampf nach Magdeburg: „Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
       
       > Der Täter von Magdeburg war beeinflusst von rechtsextremen Narrativen.
       > Der Sozialforscher Hans Goldenbaum beobachtet, wie die Szene damit
       > umgeht.
       
 (IMG) Bild: Der verlassene Magdeburger Weihnachtsmarkt nach dem Anschlag am 20. Dezember
       
       taz: Herr Goldenbaum, für die meisten Menschen ist [1][schwer verständlich,
       was den Täter von Magdeburg eigentlich antrieb]. Können Sie das verstehen? 
       
       Hans Goldenbaum: Man merkt, für viele ist das schwer zusammenzubringen: Ein
       Mann aus Saudi-Arabien, aber der soll rechts sein? Hinzu kommen diese
       vermeintlichen Paradoxien, er bezog sich positiv auf rechtsextreme
       Influencer und Parteien wie die AfD, auf der anderen Seite gibt es
       Gewaltaufrufe gegen Deutsche und dann wählt er einen Weihnachtsmarkt als
       Anschlagsort. Aber aus unserer Sicht lässt sich auch diese Tat aus den
       vorliegenden Informationen ideologisch beziehungsweise motivational
       nachvollziehen. 
       
       taz: Wie dröseln Sie diese Widersprüche auf? 
       
       Goldenbaum: Im rechten Desinformationsmilieu wird zum Beispiel gerade
       betont, dass er früher Flüchtlingen helfen wollte. Daraus machen die dann
       sozusagen einen Pro-Flüchtlingsanschlag. Aber er wollte ja nur ganz
       bestimmten Geflüchteten helfen, nämlich Leuten, die aus islamischen Ländern
       kommen, sich von der Religion lossagen und auf dieser Basis verfolgt
       werden. Die Mehrheit der Geflüchteten hat er nicht als unterstützungswürdig
       angesehen. Im Gegenteil: Er bezeichnete es als Problem, dass europäische
       Staaten Geflüchtete aus Kriegsgebieten aufnehmen, aus Afghanistan, Syrien
       und so weiter. Dadurch würden zu viele Muslime nach Europa kommen.
       
       taz: Warum drohte er dann explizit, Deutsche zu töten, wenn er gegen
       Geflüchtete und den Islam ist?
       
       Goldenbaum: Das stand vor dem Hintergrund, dass er – und das muss man
       wirklich verstehen – eine verschwörungsideologische Verfolgungsgeschichte
       erzählt, mit paranoischen Zügen. Das ist ähnlich wie beim [2][Täter von
       Hanau]. Demnach wollten der deutsche Staat, die deutsche Polizei und die
       deutschen Geheimdienste verhindern, dass er die Wahrheit ans Licht bringt;
       die Wahrheit, dass Deutschland Europa islamisieren will und quasi Teil der
       Agenda des „großen Austausches“ ist. Darum würde er überwacht. Es wäre bei
       ihm eingebrochen worden, Beweise wären von der deutschen Polizei gestohlen
       worden und aufgrund seines Kampfes würde sein Leben durch Deutschland
       bedroht. In dieser Erzählung stehen die Deutschen sozusagen auf der
       falschen Seite der Geschichte, da sie aus seiner Sicht pro Geflüchtete und
       pro Islam sind und Leute wie ihn bis zum Tod verfolgen. Deshalb hat er
       getwittert: „Wenn die Deutschen uns töten wollen, dann werden wir sie
       abschlachten oder sterben oder stolz ins Gefängnis gehen.“
       
       taz: Warum wählte er einen Weihnachtsmarkt als Anschlagsziel? 
       
       Goldenbaum: Er hat sich offenbar in einem Abwehrkampf gesehen: Deutschlands
       Ziel sei die Islamisierung Europas und Deutschland attackiere die
       islamkritische Bewegung. Deutschland als weltoffenes Gesellschaftsgebilde,
       das Geflüchtete aufnimmt und die Religionsfreiheit gewährt, statt gegen den
       Islam anzukämpfen. Daran wollte er sich rächen. Hinzu kam wohl seine
       paranoide Störung beziehungsweise dann ein psychischer Ausnahmezustand. Das
       kann dann auch so einen Anschlag auf ein zentrales kulturelles Event in
       Deutschland wie den Weihnachtsmarkt erklären. 
       
       taz: Um das christliche Weihnachten ging es ihm also eher nicht, oder? 
       
       Goldenbaum: Nein, davon gehe ich nicht aus. Auch wenn er sich durchaus
       allgemein religionskritisch geäußert hat, nicht nur antiislamisch: Gott sei
       ein „jüdischer Götze“. Das ist übrigens auch eine Parallele zu
       atheistischem oder zu antimonotheistischem Rechtsextremismus. Und es ist
       natürlich interessant vor dem Hintergrund, keine Hemmungen zu haben, einen
       Weihnachtsmarkt anzugreifen. Aber ich denke, es ging eher um den
       Weihnachtsmarkt als ein jährliches, zentrales Kulturevent der deutschen
       Bevölkerung.
       
       taz: War der Täter ein Rechtsextremist? 
       
       Goldenbaum: Er ist beeinflusst von rechtsextremen Narrativen und
       reproduziert sie: Influencer aus Nordamerika, Influencer aus Deutschland,
       militant rechtsextreme Kanäle wie „Radio Genoa“, Akteure aus dem
       parteipolitischen Spektrum der AfD und zuletzt [3][Elon Musk]. Meiner
       Einschätzung nach handelt es sich beim Täter um eine marginale Figur
       innerhalb der Diskursgemeinschaft des globalen Rechtsextremismus. Es ist
       sozusagen eine Onlinewelt, in der in den letzten Jahren viele Einzeltäter
       entstanden sind. Auch der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt, mit seinem
       Botschaftscharakter, ein „Weckruf“ zu sein, das passt gut in bestimmte
       rechtsextreme Motivationen, die wir im Bereich des Rechtsterrorismus schon
       hatten. Wörtlich schrieb er vor mehreren Wochen über den Kampf gegen die
       Islamisierung: „Uns Liberale wird man im Westen nur respektieren, wenn wir
       Gewalt verwenden, wie die Islamisten.“
       
       taz: Wie reagieren Rechtsextreme darauf? 
       
       Goldenbaum: Es wird versucht, das komplett zu leugnen. Der Täter sei doch
       ein Islamist, der habe sich nur verstellt. Eigentlich habe er Dschihad
       gemacht. Dann werden die Gewaltaufrufe gegen Deutsche aus dem Kontext
       gerissen und der Satz, dass Deutschland Islamisierung betreibe, wird
       einfach weggelassen. Oder es heißt, er sei eigentlich ein Linker, weil er
       das in einem Interview mit einem rechtsextremen Medium gesagt hat. Aber
       diese Äußerung ist auch nicht sonderlich überraschend. Dass Rechte sich als
       die eigentlichen Antifaschisten bezeichnen, kennen wir etwa von Corona-
       oder Montagsdemos. Da gibt es derzeit wirklich eine massive Kampagne, die
       auch großen Einfluss haben wird, einfach weil die AfD sie mitträgt. 
       
       taz: Sie hatten vorher erwähnt, dass der Täter geschrieben hat, er wolle
       stolz ins Gefängnis gehen. Glauben Sie, der Täter wollte auch persönliche
       Aufmerksamkeit? 
       
       Goldenbaum: Ja, absolut. Das konnte man auch bei einem Interview hören, das
       er noch vor ein paar Tagen gegeben hat: das – wohl narzisstische –
       Bedürfnis, ernst genommen zu werden, wahrgenommen zu werden. Da sagt er zu
       dem Journalisten, dieser sei der erste seit sieben Jahren, der ihn ernst
       nehme. Niemand höre ihm zu und wolle seine wichtigen Informationen haben.
       Deswegen sprechen wir im Terrorismus ja auch von Botschaftstaten. Es geht
       gar nicht um die Tat selbst, sondern die Tat soll in der jeweiligen
       Gesellschaft etwas auslösen.
       
       23 Dec 2024
       
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