# taz.de -- Marathon vs. Autoverkehr: Heute gehört die Straße uns
       
       > Wenn am Sonntag in Berlin Hunderttausende auf die Straße gehen, ist das
       > keine Demo für eine bessere Verkehrspolitik. Aber vielleicht ein
       > Denkanstoß.
       
 (IMG) Bild: Wie ruhig es auf diesen Boulevards sein kann, wenn man nur Getrappel von Fußsohlen vernimmt: Szene beim Berlin-Marathon 2019
       
       Auf dem Weg zum Bioladen hätte es mich fast erwischt. „Es“ war in diesem
       Fall ein getunter weißer Mercedes, die die Hauptstraße im Berliner Bezirk
       Schöneberg entlangröhrte. Als er noch hundert Meter entfernt war, stieg ich
       von der Mittelinsel auf die Straße.
       
       Der Fahrer sah mich und gab Gas, hielt direkt auf mich zu. Als ich mich
       gerade zwischen zwei parkenden Autos in Sicherheit brachte, raste er knapp
       hinter mir vorbei. Wäre ich langsamer geworden oder gestolpert, würde wohl
       eine Kollegin in dieser Kolumne über das Mordwerkzeug Personenkraftwagen
       schreiben. Ich jedenfalls blickte auf die frischen blauen Streifen, die
       gerade auf die Straße gemalt worden waren und dachte: „Du Arsch, am Sonntag
       gehört die Straße mir.“
       
       Denn am Sonntag ist wieder [1][Marathon in Berlin]. Zehntausende Verrückte
       wie ich werden sich über eine Strecke quälen, die viele Menschen nicht
       freiwillig mit dem Fahrrad zurücklegen. Hunderttausende werden dabei mit
       uns feiern. Warum wir das machen, ob das gesund ist, worauf wir uns da
       einlassen und was das alles kostet, darüber reden wir jetzt nicht. Sondern
       darüber, wie gut es tut, eine Stadt wie Berlin auf diese Weise lahmzulegen.
       Beziehungsweise auf die Beine zu bringen.
       
       Ein solcher Stadtlauf bringt ganz neue Eindrücke: Wir haben Vorlauf auf den
       großen Rennstrecken der Stadt, wo wir sonst Freiwild sind. Die Polizei
       schützt ausnahmsweise mal die Fußläufer vor den Autofahrern. Wir merken,
       wie zügig man von einem Berliner Kiez in den nächsten kommen kann, wenn der
       Motor die eigenen Beine sind. Wir hören, wie ruhig es auf diesen Boulevards
       sein kann, wenn man [2][nur Getrappel von Fußsohlen vernimmt]. Wir spüren
       schmerzhaft, wie kaputt die Straßen sind, wenn wir in Schlaglöchern und
       Spurrinnen umknicken. Und wir denken: Diese Stadt könnte sich auch anders
       anfühlen.
       
       ## Riesenzirkus mitten in der Stadt
       
       Selbstverständlich ist der Marathon ein Riesenzirkus mit Kommerz, Trubel,
       Doping und Zumutungen für die Leute, die sich frei bewegen wollen. Aber
       genau das ist der [3][normale Wahnsinn des Autoverkehrs] an den anderen 364
       Tagen auch. Und jede Demo, Fahrradsternfahrt, Tanzparty oder großflächige
       Baustelle durchbricht den Alltag einer Stadt, die für die Bedürfnisse von
       rasenden Blechkisten gestaltet ist. Und wo „Verkehrsnachrichten“ im Radio
       in der Regel Meldungen rund um den Autoverkehr sind.
       
       Aber weil wir den Platz vor unserem Haus schon lange an die stehenden und
       fahrenden Maschinen verloren haben, sind wir froh darüber, wenn der Asphalt
       mal wieder für einen Moment uns gehört. Wenn da einfach Platz und Zeit ist,
       um irgendwas oder gar nichts zu tun, Freunde zu treffen, in den Himmel zu
       gucken ohne Angst, überrollt zu werden. Das dürfen wir sonst nur im Urlaub
       in mittelalterlichen Städten, die zu eng für Autos sind oder in diesen
       seltenen Menschenschutzgebieten namens „Fußgängerzonen“.
       
       Vielleicht hat die Epidemie von City-Läufen ja auch etwas mit diesem
       „Reclaim the Streets“-Gefühl zu tun: Wenigstens am Sonntag gehört die
       Straße mal für ein paar Stunden mir und meinen Kindern. Klar: Wir brauchen
       ein neues Verhältnis von Mensch und Auto. Auf meinen Laufschuhen steht auch
       was von einer „New Balance“. Und man sollte das Potenzial für Revolte beim
       Berlin-Marathon nicht unterschätzen. Er hat immerhin schon mal die letzte
       Bundestagswahl sabotiert.
       
       29 Sep 2024
       
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