# taz.de -- Die westliche Dominanz auffressen
       
       > Bei dem brasilianischen Choreografen Ricardo de Paula und seinem
       > Kollektiv Grupo Oito wird Essen zum Politikum. Ihre Performance „Carne“
       > in den Uferstudios macht zudem Schwarze Körper sichtbar
       
       Von Greta Haberer
       
       Essen ist politisch. Was wir essen und wie wir dies tun, kann ein
       politischer Akt sein. Aber auch wer isst, kann politische Fragen nach
       Identität und Machtverhältnissen in den Raum stellen. Mit diesen Fragen
       beschäftigen sich der brasilianische Choreograf Ricardo de Paula zusammen
       mit dem Kollektiv Grupo Oito in ihrem neuen Stück „Carne“ (deutsch:
       Fleisch). Fleisch ist hier ein abstrakter Begriff: Fleisch ist
       Körperlichkeit, Körper und damit Teil der Natur.
       
       Grundlage der Performance ist die brasilianische Antropophagie-Bewegung,
       eine künstlerische wie sozialkritische Bewegung der Moderne, die zum
       kulturellen Kannibalismus aufrief und die rassistische, dominante
       europäische Kultur verschlingen wollte. Essen ist in diesem Sinne ein Akt
       der Befreiung, Fleisch wird zu einem Symbol des Widerstands. Das Fleisch
       hier sind Schwarze Körper, die von der westlichen und weißen Vorherrschaft
       aufgefressen werden und sich nun aufbäumen.
       
       Entgegen der gewaltvollen Vorstellung von Kannibalismus beginnt die
       Performance im Uferstudio 14 dagegen sanft und zärtlich. Vier
       Performer*innen, jeweils zu zweit, liegen eng umschlungen in der Mitte des
       in dunkles Rot getauchten Bühnenraums. Sie erkunden ihre Körper, rollen
       übereinander, schieben und ziehen sich, ohne je voneinander loszukommen.
       Sie ziehen einander an der Haut, kneifen und beißen sich in die Muskeln.
       Mit verspielter Sinnlichkeit bewegen sie sich so durch den Raum, während
       ein*e weitere Performer*in sich mithilfe der japanischen Kinbaku-Technik
       in einem Quader aus Metallstreben so verknotet, bis sie* frei darin
       schwingen kann – wie ein Stück Fleisch im Schlachthof.
       
       Von hier an entwickelt sich „Carne“ immer mehr zu einer Collage aus
       Symbolen des Widerstands, der Heilung und Veränderung Schwarzer Körper. Ein
       Solo von Martina Garbelli stellt den Mund in den Vordergrund. Animalisch
       wirbelt sie über den Bühnenboden, krabbelt und springt energetisch umher,
       den Mund dabei immer wieder weit aufgerissen, Zunge rausgestreckt. Der
       Mund, der isst, der Mund, der ausspricht, wer Macht und wer Besitz hat.
       Doch der Mund kann auch lächeln. Er kann Schmerz weglächeln und Wut
       überspielen. Es ist eine der eindrücklichsten Szenen der Performance, wenn
       die Tänzer*innen ruckartig wie Aufziehpuppen auf der Stelle tanzen, die
       Gesichter krampfhaft zu einem Lächeln verzerrt.
       
       Es ist eine kleine Tour de Force, durch die Ricardo de Paula mit Grupo Oito
       das Publikum jagen. Jede Szene katapultiert das Publikum in ein neues
       Setting. Thiago Rosa erzählt manisch von einem Traum, in dem sich am Ende
       alle Menschen gegessen haben, Cintia Rangel tanzt auf einem rollenden
       Podest à la Josephine Baker mit Bananen an den Hüften, an einem erhöhten
       Tisch werden knackige Äpfel so voller Genuss verschlungen, als wäre es das
       erste Mal und Popcorn wird vom Körper eines Tänzers gegessen – oder wird
       auch sein Körper dabei verzehrt? Der Begriff des Fleisches wird in „Carne“
       ins politisch Abstrakte gehoben. Die Arbeit wirkt wie ein Netz aus
       Assoziationen, das im Laufe des Abends immer weitergesponnen wird. Leider
       fehlt hier manchmal der rote Faden und die Performance hangelt sich so von
       Szene zu Szene, wobei die Übergänge manchmal nicht eindeutig scheinen. Über
       knapp zwei Stunden zieht dies in die Länge, zwei oder drei Szenen weniger
       hätten der Performance gut getan.
       
       Langweilig wird es trotzdem nie, zu viel passiert auf der Bühne, immer neue
       Bilder und Emotionen werden auch dank des atmosphärischen Bühnenbilds und
       Sounddesigns kreiert. „Carne“ ist wie eine in Rot getauchte Collage, voller
       Symbole und Botschaften, die Schwarze Perspektiven und Körperlichkeit
       sichtbar macht.
       
       16 Sep 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Greta Haberer
       
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