# taz.de -- Eine warme Dusche aus Komplimenten
       
       > Ein Forschungsprojekt in Braunschweig will positive Psychologie in die
       > Schulklassen bringen, damit die Schüler:innen gern lernen. Die Idee
       > dahinter: Glück ist trainierbar
       
       Von Friederike Grabitz
       
       Die Viertklässler:innen falten einen Papierflieger. „Jetzt wieder
       auffalten“, sagt die Lehramtsstudentin, die heute zu Gast im Unterricht
       ist. Die Schüler:innen schauen irritiert, dann nehmen sie ihre Flugzeuge
       wieder auseinander – und falten sie gleich nochmal. Diesmal geht es viel
       schneller, weil das Papier schon Falze hat. Das Papier hat ein Gedächtnis
       bekommen.
       
       Mit dieser Übung lernen die Kinder das Konzept der „Neuroplastizität“:
       durch Erfahrungen organisiert das Gehirn sich neu, es entwickelt neue
       Gewohnheiten. So lässt sich fast alles trainieren: Sport, Rechtschreibung
       oder Glück.
       
       Die Origami-Übung ist Teil eines Glückstrainings, das 39
       Lehramtsstudierende aus Braunschweig Ende 2022 bis Mitte 2023 mit rund 500
       Viertklässler:innen absolviert haben. In Zweierteams übten die
       Schüler:innen elf Schulstunden lang, Gefühle zu artikulieren. Auf
       Postkarten gaben sie sich gegenseitig „warme Duschen“ mit Komplimenten und
       spazierten durch eine „Glücksallee“ im Klassenraum.
       
       Die Unterrichtseinheiten hat die Logopädin Carina Mathes entwickelt. Ihr
       „Curriculum Schulfach Glückskompetenz“ ist ein Konzept, mit dem Lehrkräfte
       Schulstunden gestalten können. Die Schüler:innen lernen Resilienz und
       Selbstbewusstsein und trainieren, sich selbst „Glücksinseln“ im Alltag zu
       schaffen. Für Lehrende hat Mathes außerdem einen Online-Kompetenzkurs
       entwickelt.
       
       Mathes hat sich mit der Disziplin der „positiven Psychologie“ befasst, die
       der Psychologe Martin Seligman in den 1990er-Jahren in den USA prägte. Er
       forschte über Depression und fragte sich, wie die Psychologie sich auf
       mentale Ressourcen statt auf Defizite fokussieren kann. Dabei geht es nicht
       darum, negative Emotionen zu leugnen. Menschen können aber Strategien
       erlernen, sie als Hinweise zu nutzen und mit ihnen umzugehen.
       
       In Deutschland ist die positive Psychologie noch wenig bekannt. Der
       Psychologe Tobias Rahm, bis vor Kurzem tätig an der Technischen Universität
       Braunschweig, kannte die Forschungen. In seiner dieses Jahr erschienenen
       [1][Doktorarbeit] befasste er sich mit der Frage, wie Lehrende ihr
       Wohlbefinden stärken können. „Sie lernen im Referendariat, die perfekte
       Unterrichtsstunde vorzubereiten. Das kann zehn Stunden dauern. Aber dann
       haben sie in der Realität vielleicht eine Stunde Zeit für die Vorbereitung
       von zehn Unterrichtsstunden.“ Deshalb falle es vielen schwer, sich nach
       Feierabend zu entspannen.
       
       Danach fragte sich Rahm, wie Schüler:innen glücklicher werden können.
       Bei Umfragen, sagt er, „kreuzen viel zu wenige Schüler an, dass sie gern
       zur Schule gehen“. Wie lässt sich das ändern? Wie lassen sich unsere
       Schulen umbauen in Orte „zum Wohlfühlen und Aufblühen“?
       
       Rahm war begeistert von Carina Mathes’ Unterrichtsmodulen. Am Institut für
       Pädagogische Psychologie der TU Braunschweig machte er ein Projekt daraus.
       Er bildete Studierende dafür aus, die Module an 16 Braunschweiger
       Grundschulen anzuwenden.
       
       Der Unterricht wurde begleitet von einer wissenschaftlichen Untersuchung,
       die messen sollte, ob die Schüler:innen sich nach dem Glückstraining
       besser fühlten. Vor Beginn der ersten und nach Ende der letzten Stunde
       füllten sie Fragebögen aus. Die gleichen Fragebögen bekamen sie nach einem
       Monat und nochmals drei Monate später. Auch die Parallelklassen, Lehrende,
       Eltern und Schulleitungen wurden befragt. Einige von ihnen gaben
       ausführlichere Interviews, die in einer Abschlussarbeit ausgewertet wurden.
       
       Die Fragebögen zeigten einen messbaren Effekt besonders nach einem Monat –
       besonders bei Schüler:innen, die anfangs ein negatives Selbstbild oder
       wenig Unterstützung zu Hause hatten. Sie hatten in dieser Zeit weniger
       negative Emotionen. „Wir waren überrascht, dass wir überhaupt Ergebnisse
       hatten“, sagt Rahm. „Viele der Kinder waren am Anfang der Studie schon auf
       einem guten Weg. Und Viertklässler können noch nicht so gut reflektieren.“
       
       Rahm ist sicher: „Dieser Impuls bringt den Schülern auch langfristig
       etwas.“ Deswegen möchte er erreichen, dass Trainings wie dieses in allen
       Schulen in den Unterricht integriert werden. Regelmäßigen Glücks-Unterricht
       gibt es heute nur in einer Eliteschule in Australien und in Schulen in
       Indiens Hauptstadt Neu-Delhi.
       
       Um den Glücksunterricht auch für größere Kinder in die Schulen zu bringen,
       arbeitet Rahm gerade in einem Projekt über „psychische Gesundheit und
       Wohlbefinden an Schulen“. Es bringt das Programm [2][„Lebenslust mit Lars &
       Lisa“] in achte Klassen in Braunschweig. Sie beschäftigen sich mit
       Selbstwertkonzepten und Strategien im Umgang mit negativen Gefühlen. Ziel
       ist, sie gegen psychische Erkrankungen zu stärken – auch ohne
       Papierflieger.
       
       19 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2024.1289876/full
 (DIR) [2] https://www.gruene-liste-praevention.de/nano.cms/datenbank/programm/65
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friederike Grabitz
       
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