# taz.de -- Die Wahrheit: Mehr Eskalation wagen
       
       > Ab in die Arena: Bei Wahlkampfsportveranstaltungen entdecken
       > demokratische Parteien jetzt den gewaltgestützten Dialog.
       
       „Mit Systemparteien rede ich nicht“, insistiert der Maskierte, doch den
       Dialog mit ihnen sucht er trotzdem. Davon künden die blauen Flecken auf
       seinem Körper. Schon zum dritten Mal betritt der Enddreißiger den Ring. Zur
       Ledermaske trägt er die lange Wehrmachtsunterhose seines Urgroßvaters und
       eine Reichskriegsflagge um die Schultern.
       
       Unter dem Kampfnamen „Reichsfürst33“ hat sich der gelernte Lackierer aus
       dem thüringischen Schorla zum Bürgergespräch mit den Kandidaten der
       etablierten Parteien angemeldet, das neuerdings mit harten Bandagen geführt
       werden darf. Verboten sind bei der physischen Diskussionsveranstaltung, die
       in der Mehrzweckhalle einer thüringischen Kleinstadt abgehalten wird,
       allein schmerzhafte Katachresen und Baseballschläger.
       
       „Der Abend ist ein juristisch heikles Pilotprojekt, deswegen tragen alle
       Teilnehmer Masken“, erklärt Dr. Jens-Uwe Trenkner, der den Abend im
       gestreiften Hemd der Wrestling-Schiedsrichter moderiert. Der
       Politikwissenschaftler und „Lucha Libre“-Experte hat die
       Wahlkampfsportveranstaltung entwickelt, um dem gesellschaftlichen Klima
       gerecht zu werden.
       
       Vielen Bürgern ist vor allem nonverbale Kommunikation mit den Eliten zum
       Anliegen geworden, auch in der politischen Klasse selbst wächst der Wille
       zum Wumms. Neben regulären Mandaten sollen in den ostdeutschen
       Landtagswahlen im Herbst deswegen erstmals „robuste Mandate“ mit bloßen
       Fäusten erkämpft werden.
       
       „Politik wird immer stärker zum Vollkontaktsport, besonders auf Landes- und
       Kommunalebene“, sagt Dr. Trenkner. „Darauf muss eine wehrhafte Demokratie
       mit Akzeptanz, aber auch Militanz reagieren. Wir müssen mehr Eskalation
       wagen!“ Und schon der große, alte Stratege der Sozialdemokratie schrieb
       seiner Fraktion ins Stammbuch: „Wer auffe Fresse will, kann auffe Fresse
       kriegen.“ Nach dieser Devise prügelten Herbert Wehner und Genossen 1950 den
       rechtsradikalen Abgeordneten Wolfgang Hedler aus dem Bundestag, nachdem der
       trotz Ausschluss an der Parlamentssitzung teilnehmen wollte.
       
       Seit dem Angriff der vergangenen Woche in Dresden auf Matthias Ecke, den
       sächsischen SPD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, wird Wehners Angebot
       der gewaltbereiten Kommunikation mit politischen Gegnern wiederentdeckt –
       über die Grenzen seiner Partei hinaus.
       
       „Man muss die Leute da abholen, wo sie stehen“, sagt auch eine Fighterin,
       die für die Grünen an der „Town Hall Rumble“ genannten Gesprächsform
       teilnimmt. „Und dort möglichst gleich umhauen“, setzt die Transfrau dazu.
       Als „Cobra The Woke Witch“ steigt sie im Regenbogenoutfit in den Ring und
       provoziert das Publikum mit äußerst moderaten Forderungen.
       
       Die lauten Buh-Rufe nimmt die Zweimeterfrau gelassen hin, die
       Rugbyspielerin verfügt über Nehmerinnenqualitäten. Außerdem hat sie
       gelernt, dass auch dem „Heel“, wie der Antagonist im Wrestling genannt
       wird, die Zuschauerherzen zufliegen, wenn er einen spannenden Fight
       liefert.
       
       „Mit schmutzigen Tricks will ich die Menschen für progressive Inhalte
       gewinnen“, gibt sich die Martial-Arts-Kämpferin für Minderheitenrechte
       zuversichtlich. Das Konzept scheint aufzugehen. Als sie „Reichsfürst33“
       einen Klappstuhl über den Schädel zieht, jubelt das Publikum ihr zu.
       
       Doch als der schwurbelrechte Lokalmatador zu Boden geht, wird er von einem
       Verbündeten ausgelöst. Der konservative „Mario The Giant aka Der Landvogt“
       ist über die Brandmauer gesprungen und attackiert die Grüne. Beide
       Kontrahenten greifen zur Nazikeule. Doch Cobra ist Rechtsauslegerin und
       schlägt durch die löchrig konservative Deckung. Dann mischt sich ein
       Giftzwerg mit dem Kampfnamen „Ulbricht“ ins Geschehen ein. Der bärtige Gnom
       trägt den goldenen BSW-Gürtel und eine Ostalgie-Trikotage aus Dederon.
       
       Überraschend bietet er sich dem Landvogt als Partner eines Tag-Teams an,
       wie Koalitionen im Ring genannt werden. Cobra ruft nach der
       Sozialdemokratie, doch die SPD lässt sie hängen. Jahrelange Tief- und
       Rückschläge im Osten haben die Partei extrem defensiv aufgestellt, einzig
       ein spindeldürrer Judo-Juso stellt sich der Diskussion. Die FDP hat die
       Kampfhandlungen an einen Killerroboter outgesourct, findet in der Halle
       aber keine freie Steckdose zum Aufladen.
       
       Das Publikum rast vor Begeisterung, doch verkämpfen sich die Kombattanten
       in ermüdenden Koalitionsverhandlungen, die Cobra eine Atempause
       verschaffen. Mit einem Tritt ins biologische Geschlecht setzt sie Mario
       außer Gefecht, aber der Wagenknecht verbeißt sich in die Waden der
       Lifestyle-Linken – bis ihr „The Ram“ zu Hilfe eilt, ein blasser Bürokrat in
       Pfadfinderuniform. Wer steckt hinter der Widdermaske?
       
       ## Schwer salbadernd in die Offensive
       
       Kürzlich hat Thüringens Ministerpräsident bekannt gegeben, dass auch er
       sich um ein robustes Mandat bemühen will. Der Kampfstil passt: Die
       vernichtend dröge Allzweckwaffe der Linken geht schwer salbadernd in die
       Offensive. Schon hat der aufreizend protestantische Machtmensch den
       Konservativen in den Schwitzkasten gemenschelt, bald zwingt er den
       BSW-Kampfzwerg, Kreide zu fressen. Im Publikum schlägt die Stimmung um. Mit
       seiner hinterfotzigen Art kommt „The Ram“ in Thüringen bei gewaltgeilen
       Straßenschlägern wie gewissenlosen Schreibtischtätern an.
       
       Doch dann dreht der Ringrichter an der Gewaltspirale: Er lässt „Macho Man
       Björn Savage“ in die Arena, der in verschwitzter Umklammerung mit anderen
       Männerkörpern bloß „seine Männlichkeit“ entdecken will, wie er stets
       behauptet. Doch niemand weiß, was der Fighter mit der Hitler-Maske
       politisch im Schilde führt. Skrupel kennt er jedenfalls keine: Mit einer
       hundsgemeinen 180-Grad-Wende sichelt er „The Ram“ um, der „Woke Witch“
       reißt er mit bloßen Händen die Pronomen aus dem Leib und wirft sie dem Mob
       zum Fraß vor.
       
       Jetzt hat die fanatisierte Masse buchstäblich Blut geleckt, eigenmächtig
       hebelt der „Björninator“ die demokratischen Spielregeln aus. Unter den
       Jubel- und Heilrufen kündigt er eine „Nacht der langen Messer“ an.
       
       „Town Hall Rumble“-Impresario Dr. Trenkner will intervenieren, wird jedoch
       niedergeschrien und kann erst in allerletzter Sekunde aus dem Hexenkessel
       fliehen. Noch auf der Flucht skizziert er ein neues Dialogformat. Um den
       demokratischen Diskurs zu retten, soll die AfD künftig auch Hieb- und
       Stichwaffen im Wahlkampf einsetzen dürfen. Man muss ja schließlich im
       Gespräch bleiben.
       
       11 May 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Bartel
       
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