# taz.de -- Zeugnisse des Heroischen
       
       Fotos Sebastian Wells
       
       Leere rote Plastikstühle, im Gras aufgereiht für eine Versammlung.
       Schützengräben in der Landschaft, Trampelpfade im Gras: Der Berliner
       Fotograf Sebastian Wells hat mit der Kamera nationalistische Bewegungen im
       belgischen Flandern erkundet. Unter dem Titel „Typ/Traube/Tross“ sind seine
       Fotografien zurzeit in Berlin zu sehen.
       
       Erklärt wird in den zwei Ausstellungsräumen nicht viel; beim Betrachten
       fügen sich Landschaften, architektonische Details, Porträts und Objekte zu
       einer vage beunruhigenden Szenerie zusammen. In der Mitte des Raumes ein
       schmaler Gang, in dem Mitglieder der Nationalistischen
       Studentenverbindungen NSV auf der einen Seite in ihren Uniformen und auf
       der anderen „in Zivil“ posieren; unter dem strengen Blick der jungen Leute
       geht man durch ihre Reihen hindurch.
       
       Der zweite Raum verlässt die Ebene der Fotografie. Hier analysiert Wells
       theoretische Grundlagen des Nationalismus und kommentiert sie teils
       ironisch. An der Wand hängen Seiten aus dem Fotobuch „Das germanische
       Volksgesicht: Flandern“ von 1942, die Bilder der nationalsozialistischen
       Rassenideen nahestehenden Belgierin Erna Lendvai-Dircksen sind überklebt
       mit Fotos von Skulpturen des Künstlers Cyriel Verschaeve; er kooperierte
       während des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis. Auf einem Sockel rotiert ein
       Buch von Leo Trotzki „Wie wird Faschismus geschlagen?“ – eine auf dem Cover
       befestigte Kompassnadel zeigt immer gen Norden.
       
       Sebastian Wells studierte von 2021 bis 2023 Fotografie in Gent. Die in
       Belgien herrschende Rivalität zwischen den Regionen, der teils aggressive
       hypernationalistische Diskurs – bei der letzten Wahl vereinten
       rechtspopulistische flämische Parteien 49 Prozent der Stimmen auf sich –
       brachten ihn dazu, sich künstlerisch mit dem Phänomen zu befassen, wie er
       am Telefon erzählt: „Obwohl Flandern heute politisch unabhängig und die
       wirtschaftlich stärkste Region Belgiens ist, wird noch immer das alte
       Feindbild der französischen Unterdrückung hochgehalten.“
       
       Wells näherte sich dem Thema wie ein Archäologe mit Kamera: „Ich habe nach
       zeitlichen Verbindungslinien gesucht, über die Identität sichtbar wird.“
       Ein Haus, von dem nur noch die Fassade steht, halb überwuchert von einem
       Baum. Eine Kranzniederlegung zu „Ijzerwake“, einem jährlichen Treffen, bei
       dem ultranationalistische Gruppen ausgerechnet unter dem Motto „Nie wieder
       Krieg“ der Weltkriegstoten gedenken. Coronaleugner*innen, die sich bis zur
       Nasenspitze in die flämische Flagge hüllen. Die froschgrünen
       Kunstledersitze für Zuschauer*innen in Belgiens föderalem Parlament, an
       deren Unterkante die Simultankopfhörer eingestöpselt werden. Für Sebastian
       Wells symbolisieren sie den Sprachenstreit, der Belgien politisch und
       kulturell lähmt. „Die Distanz zwischen den Regionen und Sprachen ist so
       groß, dass es sogar ein innerbelgisches Erasmus-Austauschprogramm gibt“,
       erzählt er.
       
       Die Büste entdeckte der Fotograf zufällig in einem leerstehenden Gebäude.
       Die Figur mit den strengen Gesichtszügen stand namenlos und unvollendet
       auf einem Gestell in einer offenbar aufgegebenen Fertigungshalle – eine
       Identitätskonstruktion, abgebrochen aus welchen Gründen auch immer; über
       sie geht die Zeit genauso hinweg wie über die angegilbte Blumengirlande an
       einem Gedenkort.
       
       Und warum „Typ/Traube/Tross“? Die drei Begriffe symbolisieren für Wells
       verschiedene Stufen der Gruppenzugehörigkeit. Aus einem Typ Mensch
       entwickelt sich eine Traube Gleichgesinnter, die sich um einen Punkt
       gruppiert. Der Tross schließlich, „die mobilisierte Traube“ ist die höchste
       Steigerungsform eines identitären Gruppenwahns, der kennzeichnend ist für
       nationalistische Bewegungen. Nina Apin
       
       23 Mar 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sebastian Wells
       
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