# taz.de -- Ein neues Begehren
       
       > Die letzten Vorlesungen des Poptheoretikers Mark Fisher liegen nun auf
       > Deutsch vor
       
       Von Tobias Obermeier
       
       Esgibt diesen einen Film von Ridley Scott, den der britische
       [1][Kulturtheoretiker Mark Fisher] für einen seiner besten hielt –
       zumindest sei er Scotts einziges Werk von Bedeutung nach „Alien“ und „Blade
       Runner“. Der Film, ein Werbespot, dauert nur eine Minute, hat 900.000
       Dollar gekostet und wurde für den Superbowl 1984 produziert. Darin wirft
       eine Frau in bunter Sportbekleidung, die von einer Horde Polizeibeamter
       verfolgt wird, einen Vorschlaghammer in einen riesigen Bildschirm. Vor
       diesem sitzt eine Armada grauer und kahl rasierter Menschen. Aus dem
       Bildschirm indoktriniert der große Bruder seine Arbeitssklaven. Ein Verweis
       auf Orwells „1984“. Am Ende heißt es: „Am 24. Januar wird Apple Computer
       den Macintosh vorstellen, und Sie werden sehen, warum 1984 nicht wie 1984
       sein wird.“ Mark Fisher sieht im Werbespot den Beginn einer neuen Form des
       Kapitalismus. „Die neue kapitalistische Welt wird ganz anders. In der neuen
       kapitalistischen Welt wird es um das Begehren gehen, anders als in der
       kommunistischen Welt“, fasst Fisher das Versprechen von Apple zusammen. Der
       Werbespot ist das erste, was er den Studierenden in seiner letzten
       Vorlesungsreihe am Londoner Goldsmith College zeigt. Es sollte darum gehen,
       wie unsere Wünsche im Kapitalismus geformt werden und wie ein Begehren nach
       dem Kapitalismus aussehen könnte. Einen Abschluss fand die Vorlesung, die
       im November 2016 begann, nicht. Mark Fisher nahm sich im Januar 2017 das
       Leben.
       
       Die ersten fünf Vorlesungseinheiten sind nun auf Deutsch unter dem
       doppeldeutigen Titel „Sehnsucht nach dem Kapitalismus“ erschienen. Auf
       knapp 300 Seiten lassen sich die transkribierten Audioaufnahmen der
       Vorträge und der Diskussionen mit den Studierenden nachlesen. Es ist ein
       faszinierendes Protokoll, das einen tiefen Einblick gibt, wie [2][einer der
       profiliertesten und einflussreichsten Poptheoretiker der jüngeren
       Vergangenheit] sein Wissen an die nachfolgende Generation weitergibt.
       Zugleich zeigt es einen humorvollen, improvisierenden und aufgeschlossenen
       Denker, der seine Überlegungen immer wieder hinterfragt und jene seiner
       Studierenden gleichermaßen als diskussionswürdig ansieht. „Ist es möglich,
       Teile der libidinalen, technologischen Infrastruktur des Kapitals zu
       erhalten, aber das Kapital selbst hinter sich zu lassen?“, fragt Fisher in
       der ersten Kurseinheit. Darin zeigt sich das Kernanliegen seines Denkens.
       Wie können wir aus der deprimierenden Alternativlosigkeit des Status quo
       ausbrechen, den Verlust unserer Vorstellungskraft überwinden und eine neue,
       andere Zukunft erfinden? Um diesen Fragen nachzugehen, machte Fisher einen
       Streifzug durch die Kulturtheorie und -geschichte der letzten hundert
       Jahre. Marcuses „Triebstruktur und Gesellschaft“ wird ebenso diskutiert wie
       Georg Lukács Ausführungen zum Klassenbewusstsein oder Lyotards schwer
       zugängliches Werk „Ökonomie des Wunsches“. Einen Lichtblick für eine andere
       Gesellschaft sah Fisher in der Gegenkultur der 1960er und 70er. Denn „was,
       wenn diese reaktiven Gegenkräfte sich in den Siebzigern nicht durchgesetzt
       hätten? Was, wenn stattdessen diese neue Allianz der Arbeiterinnen, die
       Gegenkultur und so weiter, sich auf eine dauerhafte Weise zusammengefunden
       hätte?“ Das utopische Potential der Gegenkultur wollte er in seinem
       nächsten Buch „Acid Communism“ ergründen.
       
       Nach den Weihnachtsferien sollte es um die Autonomia-Bewegung gehen. Seine
       letzten Worte, die er an die Studierenden richtet, stecken im Wissen um
       seinen frühen Tod voller Wehmut: „Ihr könnt mir immer eine E-Mail
       schreiben.“
       
       2 Mar 2024
       
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