# taz.de -- Hessens Hauptstadt Wiesbaden: Im Nizza des Nordens
       
       > Nicht in Frankfurt, sondern in Wiesbaden regiert der Ministerpräsident.
       > Ein Treppenwitz der Geschichte? Vielleicht. Dafür gibt es warme Quellen.
       
 (IMG) Bild: Ein großes Ganzes mit viel Grün: Neroberg mit Blick auf Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden
       
       Wiesbaden taz | Hier „sitzt“, hinter der Fassade einer Residenz der Herzöge
       von Nassau, die hessische Landesregierung. Was natürlich ein Witz ist,
       vielleicht sogar ein Treppenwitz der Geschichte. Warum hat [1][der
       Ministerpräsident] sein Büro nicht in Frankfurt am Main, dem New York oder
       Boston von Hessen? Armes Frankfurt. Hätte Berlin sein können,
       Bundeshauptstadt. Verlor dann aber, gründlichst zerbombt, 1949 mit nur 29
       zu 33 Stimmen gegen ein Dorf am Rhein. Und am Ende reichte es für die
       Metropole am Main nicht einmal zur Landeshauptstadt.
       
       Was Wiesbaden umso erklärungsbedürftiger macht. Helfen kann ein Blick in
       die Geschichte, namentlich auf James Newman und Adolph von Nassau.
       
       Fangen wir mit Adolph an, Herzog und Vollidiot. Mit Frankfurt, der Freien
       Reichsstadt, hatte sein Geschlecht wenig am Hut. Da war’s ihm zu kaiserlich
       und bürgerlich. Lieber präsidierte der Adolph in Wiesbaden. 1866 erklärte
       ihm Otto von Bismarck geduldig, warum er sich im kommenden Krieg gegen
       Österreich besser mal den Preußen anzuschließen hätte. Adolph hörte sich
       das huldvoll an, wählte trotzdem Wien – und war sein Herzogtum los.
       Entthront wechselte er später wie heute die Fußballtrainer oder Manager als
       Monarch nach Luxemburg. In Wiesbaden aber stand noch herum, was er so hatte
       bauen lassen.
       
       Dort stand es gut. Die Stadt liegt in einer Mittelgebirgssenke am Fuß des
       Taunus. Von oben scheint die Sonne wie nebenan auch auf die Rebstöcke im
       Rheingau. Von unten wärmen heiße Quellen, von denen schon Plinius der
       Ältere schwärmte. Kollege Martial empfahl das kalkhaltige Sedimentgesprudel
       sogar als Haarfärbemittel. Eigentlich hockten die badefreudigen Invasoren
       auf der „falschen“ Rheinseite, in Mogontiacum, dem späteren Mainz. Die
       tollen Thermen lagen gefährlich nah am Limes. Also befestigten die Römer
       ihre Badewanne und nannten sie Aquae Mattiacorum.
       
       ## Unten am Rhein hockte Wagner und komponierte
       
       Erstmals bei seinem korrekten Namen wird Wiesbaden etwa 800 Jahre später
       genannt, auch wenn Einhard, der Biograf von Karl dem Großen, die Siedlung
       Wisibada nennt. Bevor wir uns aber in der Geschichte verlaufen, schnell
       wieder auf fast forward gedrückt und bei Wilhelm II. haltgemacht. Der
       Kaiser, ebenfalls ein Vollidiot, fand es in Wiesbaden nämlich auch ganz
       bezaubernd. Unter seiner Ägide ließ er das Kaff zu einem Nizza des Nordens
       umbauen, komplett mit Regierungspräsidium für die neue preußische Provinz,
       mit Bäderbetrieb, Hotellerie, Villenvierteln, Theater und Casino.
       
       Aus jener Zeit stammt der Goldstaub, der hier manchmal noch auf den Dächern
       und Straßen zu liegen scheint, vor allem auf den vergoldeten Zwiebelkuppen
       der orthodoxen Kapelle, die noch der alte Adolph seiner verstorbenen Braut,
       einer Romanowa, am Neroberg hatte errichten lassen. Wiesbaden wurde zu Bad
       Wiesbaden, einem idyllischen Alterssitz verdienter Beamter und Offiziere
       sowie sonstiger Leute, die von den Zinsen ihrer Vermögen lebten.
       
       Hinzu kamen Besucher wie Dostojewski, der im Casino für seinen Roman „Der
       Spieler“ recht lebhaft „recherchierte“. Dem Maler Alexej von Jawlensky
       gefiel es in Wiesbaden sogar so gut, dass er hier 1941 starb. Noch im 19.
       Jahrhundert hockte unten am Rhein ein Richard Wagner, komponierte dort
       seine „Meistersinger“ und wartete vergeblich darauf, dass ihm der Fürst ein
       eigenes Opernhaus bauen würde.
       
       Unterdessen wurde in Wiesbaden auch kräftig zur Welt gebracht. Die
       französische Schauspielerin Simone Signoret wurde hier geboren, der
       Musiker Paul „Paulchen“ Kuhn, der Publizist Frank Schirrmacher, der
       Widerstandskämpfer Ludwig Beck, der Philosoph Wilhelm Dilthey, der
       Fußballspieler Jürgen Grabowski, der Regisseur Volker Schlöndorff sowie,
       als besonders bizarrer Nachkriegsausreißer, John McEnroe.
       
       Der Tennisspieler, und hier beenden wir den historischen Teil, kam als Sohn
       eines US-Luftwaffenoffiziers zur Welt. Wie Wiesbaden unmittelbar nach dem
       Krieg auf einen Besucher aus der „Ostzone“ wirkte, darüber erteilte Walter
       Kempowski in „Uns geht’s ja noch gold“ beredte Auskunft im Soziolekt der
       Zeit: „Am Abend war ich in Wiesbaden, Milde Luft und Dampf aus Gullis, Hier
       gab es warme Quellen. Amerikanische Autos, die wie Akkordeons aussahen,
       schlichen in Zweierreihen die kaum zerstörten Straßen herunter und hinauf.
       Athletische [hier verwendete der Dichter ein Wort, das man heute nicht mehr
       verwendet; Anm. d. Red.] mit dicken deutschen Mädchen“ [für „dick“
       verwendete der Dichter an anderer Stelle das etwas neutralere
       „überernährt“, aber das nur ganz am Rande].
       
       ## Inzwischen 28 Gemeinden usurpiert
       
       Die athletischen oder auch überernährten „Amis“, wie die etwa 20.000 in der
       Stadt stationierten Legionäre hier liebevoll genannt werden, betreiben
       jedenfalls noch heute den Flughafen im eingemeindeten Erbenheim. Dort steht
       und fliegt viel Militärgerät herum, weil sich hier auch das europäische
       Hauptquartier der US-Armee befindet.
       
       Auch das hat Tradition, womit wir bei James Newman wären. Der amerikanische
       Erziehungswissenschaftler trat 1949 energisch dafür ein, nicht das
       plattgemachte Frankfurt, sondern das pittoreske Wiesbaden zur
       Landeshauptstadt zu machen. Weil Newman zugleich Chef der Militärregierung
       des „befreiten“ Hessen war, hatte sein Wort das Gewicht, das es brauchte.
       Trotzdem ist nach ihm in Wiesbaden nicht einmal eine Straße benannt, nur
       die Newman Village Housing Area, ein Dörfchen für US-Soldaten bei
       Erbenheim.
       
       Apropos Erbenheim. 28 umliegende Gemeinden hat Wiesbaden inzwischen
       usurpiert beziehungsweise eingemeindet, von Naurod im Wald bis zu
       Schierstein am Rhein, vom Taunus Wunderland bei Schlangenbad bis zum
       rechtsrheinischen Mainz-Kastel, das Bewohnerinnen und Bewohner der
       rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt noch heute als besetztes Gebiet
       betrachten. Der übliche Lokalimperialismus also, der Wiesbaden heute
       eine Einwohnerinnenschaft von rund 280.000 Menschen beschert. Genug, um als
       Großstadt gelten zu dürfen – aber weniger als beispielsweise allein in
       Berlin-Neukölln leben.
       
       Das Neukölln von Wiesbaden ist Biebrich, ein Ortsteil am Rhein. Hier gibt
       es Drogenhandel, Wettbüros, illegale Autorennen und den Vielfalt-o-Saurus,
       eine die ethnische Vielfalt beschwörende Spielplatzskulptur. Weil eine
       Autobahnbrücke aus statischen Gründen gesprengt werden musste, führt der
       Autobahnverkehr nun mitten durch die Stadt. Das soll bald besser werden.
       Fahrradwege sind als Zeichen des guten Willens auf die Fahrbahnen gemalt.
       Wiesbaden gilt als fahrradunfreundlichste Stadt Deutschlands. Vielleicht
       auch, weil es so hügelig ist.
       
       Nach Dresden fährt ein ICE, nach Berlin ebenso. Mit Frankfurt ist Wiesbaden
       über mehrere S-Bahn-Linien verbunden, die oft auch in Gegenrichtung
       benutzt werden – immer dann, wenn im Kulturzentrum Schlachthof großartige
       Bands spielen, die sich die Saalmieten in [2][Frankfurt] nicht leisten
       wollen. Die Fahrt dauert eine knappe Stunde, was der Berliner BVG-Distanz
       von Alt-Tegel nach Kreuzberg entspricht.
       
       ## Auf märchenhafte Weise schwul und Waise
       
       Im Verein mit Frankfurt, Darmstadt, Rüsselsheim, Offenbach oder Mainz fühlt
       Wiesbaden sich ohnehin an, als sei es Teil eines größeren Ganzen – ein
       großes Ganzes mit viel Grün dazwischen und einem funktionierenden(!)
       Flughafen direkt an der Kreuzung von A3 und A5.
       
       Viel Industrie gab und gibt es nicht. Ein bisschen Chemie, ein bisschen
       Zement aus früheren Zeiten. Die größten Arbeitgeber sind heute – neben dem
       Flughafen Erbenheim – die Stadt selbst, das Bundeskriminalamt, das
       Statistische Bundesamt und eine Reihe von Investmentfirmen, denen die
       Mieten in der benachbarten Bankenmetropole zu teuer geworden sind. Einer
       davon gehört der Fußballverein SV Wehen, mit dem Wiesbaden gegen den
       Abstieg kämpft, neuerdings immerhin in der 2. Bundesliga.
       
       Kommunalpolitik gibt es auch. Die ehemalige Bundesfamilienministerin
       Kristina Schröder (CDU) lebt und wirkt in Wiesbaden. Ein SPD-Bürgermeister
       wurde mal gewählt, weil er auf märchenhafte Weise schwul und Waise war,
       leider nicht weise, weshalb er im Amt „Vorteile genommen“ haben soll und
       nun im Taunus Wunderland arbeitet, vermutlich nicht als
       Schiffschaukelbremser.
       
       Vor dem Landesmuseum für Kunst und Natur sitzt Goethe mit entblößter
       Heldenbrust, im Staatstheater gibt es „Lohengrin“ und eine Persiflage auf
       die Kulturpolitik („Das Ministerium“). Von Biebrich, der vorgelagerten
       Riviera der Stadt, fährt regelmäßig das Fährschiffchen „Tamara“ hinüber
       nach Schierstein mit seinem Sporthafen und zu einer Insel im Rhein.
       
       Am Strand dort ist dann alles ganz weit weg. Hessen, Wiesbaden, der
       Landtag. Und Washington sowieso.
       
       8 Oct 2023
       
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