# taz.de -- Russische Eliten nach mutmaßlichem Wagner-Tod: Mit aller Gewalt
       
       > Der Absturz von Jewgeni Prigoschin zeigt die Erosion des Systems in
       > Russland. Die Zeit der Abrechnungen innerhalb der Elite hat offenbar
       > begonnen.
       
 (IMG) Bild: Ein Foto der russischen Zeitung Kommersant zeigt mutmaßlich die Reste von Prigoschins Privatjet
       
       Moskau taz | Wladimir Putin seufzt, er räuspert sich, spricht von einem
       „talentierten Menschen“, den er seit den 1990ern gekannt habe. Von einem,
       der ein „schweres Schicksal“ gehabt und „ernsthafte Fehler“ begangen habe,
       aber stets „lösungsorientiert“ gewesen sei und einen „wesentlichen Beitrag
       für unsere Sache“ geleistet habe.
       
       Es ist eine verklausulierte Grabesrede auf einen, der nur durch Putins
       jahrelanges Zutun zu dem wurde, was er war, sich gegen Putin wandte, ohne
       es offenbar zu begreifen, daraufhin nicht aus dessen Blickfeld verschwand,
       sich jedoch im Umfeld des Präsidenten sicher wähnte und schließlich sein
       Leben ließ. Ein ungelenk und selbstgerecht formuliertes Beileid für Jewgeni
       Prigoschin, den Putin nach dessen Eintagesmeuterei einen Verräter nannte,
       wobei jeder wusste, was Putin für Verräter vorsieht: den Tod.
       
       Nun ist Prigoschin mit der Führungsriege seiner skrupellosen Wagner-Gruppe
       in seinem Privatjet unweit von Putins Sommerresidenz vom Himmel gefallen,
       und der Präsident lehnt sich in seinem holzvertäfelten Zimmer zurück –
       rechts und links von sich Spiralblöcke mit nicht erkennbaren Bildern – und
       gibt das Unschuldslamm.
       
       Die „Tragödie“, sagt er, werde „vollständig aufgeklärt“ werden. So
       „vollständig“, dass wohl niemand in der Öffentlichkeit die wahre Version
       des „Zwischenfalls“, wie Putin den Flugzeugabsturz bezeichnet, erfahren
       dürfte. Kaum hat Putin gesprochen – er tat das mehr als 24 Stunden nach dem
       Absturz –, melden sich auch andere schnell zu Wort, die sonst kaum einen
       Spruch auslassen, hier aber erstaunlich still waren.
       
       ## Keinerlei Trauer
       
       Sie reden in vergleichbaren Worten über Prigoschin. Es habe den
       „schwierigen Mann“ gegeben, er habe nicht alles richtig gemacht, nun sei er
       nicht mehr da. Empathie für einen „seit Jahren Bekannten und Geschätzten“
       klingt anders. Von irgendwelcher Trauer keine Spur.
       
       Auch das russische Staatsfernsehen spricht plötzlich – wenn auch nahezu am
       Ende seiner Nachrichtensendungen – über den mutmaßlichen Tod Prigoschins,
       ähnlich verklausuliert wie Putin. Dafür steht der Absturz an sich im
       Vordergrund, nicht der Söldnerchef, der unter hohem Blutzoll in der Ukraine
       Ortschaften eroberte, von Putin selbst als „Held Russlands“ geehrt wurde
       und mit seinen Panzern und Tausenden von Soldaten einen Marsch auf Moskau
       wagte.
       
       Putins selbstgewisse Worte geben die Order an seine Propagandist*innen,
       Prigoschin nicht zu verfluchen. Und es geht weiter im Programm. Weiter im
       Alltag, in dem viele schweigen und alles, was passiert, als Normalität
       hinnehmen, sich ihr anpassen. Da fallen mittlerweile fast täglich Drohnen
       auf Moskauer Stadtgebiet, nahezu jede Nacht sind Moskauer Flughäfen
       gesperrt, auch Raketen erreichen russisches Territorium. Die Verwaltungen
       lassen die zerborstenen Fenster ersetzen und tun so, als sei nichts
       passiert. Bis die nächste Drohne im Anflug ist.
       
       „Was können wir schon ausrichten?“, fragen die Menschen. Auch die Elite
       verhält sich wie ein graues, verscheuchtes Mäuschen, das keinen Piep von
       sich zu geben bereit ist.
       
       ## Hinter vorgehaltener Hand
       
       Innerhalb der russischen Wirtschaftselite und auch aus dem Umfeld der
       Präsidialverwaltung sprechen durchaus einige von Unzufriedenheit,
       allerdings nur hinter vorgehaltener Hand. Die Führung zu kritisieren,
       geschweige denn sich gegen den Krieg aufzulehnen, wagt niemand. Prigoschins
       Absturz zeigt ihnen nun noch zusätzlich und auf brutale Weise, dass
       Widerstand zwecklos ist.
       
       Der Absturz wird einerseits mit: „So ein Unfall passiert“, abgetan,
       andererseits als öffentliche Hinrichtung eines Unbequemen wahrgenommen. Als
       Wink an die gesamte russische Elite, sich nicht mit dem Präsidenten
       anzulegen und schon gar nicht den Krieg in der Ukraine, und wie er geführt
       wird, infrage zu stellen.
       
       Die demonstrative Bestrafung vor aller Augen, geradezu theatralisch
       inszeniert, soll die Elite noch mehr in Angst und Schrecken versetzen.
       Adressaten sind diejenigen, die ohnehin in Angst leben, ihre Pfründen zu
       verlieren und ins Abseits zu geraten. Verbannung ins Ausland oder ein
       Gerichtsverfahren wegen was auch immer werden ohnehin schon eingesetzt,
       damit sie sich still und loyal verhalten. Doch wie lange?
       
       Ein System, das sich rühmt, stabil zu sein, erodiert – nicht erst seit
       Prigoschins buchstäblich tiefem Fall. Es ist politisch ungesund. Nicht weil
       es kein demokratisches und freiheitliches ist, das haben selbst die größten
       Befürworter von Putins „Vertikale der Macht“ längst verstanden, sondern
       weil auch autoritären Herrschern daran gelegen sein sollte, die Wahrung
       ihrer selbst zu pflegen.
       
       ## Gesetze werden missachtet
       
       Letztlich funktioniert das über die Einhaltung der Gesetze des Landes, die
       sie selbst erschaffen haben. Laut russischen Gesetzen sind Privatarmeen
       genauso verboten, wie Sträflinge ohne Begnadigung freizulassen.
       [1][Prigoschin hatte eine schlagkräftige Privatarmee] (es gibt etliche
       weitere Privatarmeen in Russland), dafür ließ er in den Strafkolonien des
       Landes Zehntausende rekrutieren.
       
       Da die oberste Führung selbst Gesetze missachtet, da sie selbst im
       rechtsfreien Raum agiert, letztlich Terror verbreitet, nehmen sich auch
       andere Akteure das Recht heraus, ähnlich vorzugehen und die Führung
       herauszufordern. Das hatte Prigoschin mit seiner Meuterei im Juni dieses
       Jahres versucht. Er war gescheitert und offenbarte, für jeden sichtbar, mit
       welchen Methoden der Staat geführt wird: durch Abrechnungen.
       
       Putin rühmt sich stets dafür, dass er solchem Vorgehen, das in den 1990ern
       das Land lähmte, den Garaus gemacht habe. Nun muss er selbst darauf setzen,
       weil er seine Macht nur durch Gewalt, die immer größere Ausmaße annimmt,
       aufrechterhalten kann. Er hat zwar die Macht, eine öffentliche Hinrichtung
       vorführen zu lassen und sich danach so zu geben, als habe das alles nichts
       mit ihm zu tun. [2][Ein Zeichen der Stärke ist das dennoch nicht].
       
       Putin muss immer stärker auf Abschreckung setzen, weil das Vertrauen in
       seine politische Stärke dahin ist, selbst in seinem Umkreis. Die russische
       Politologin Jekaterina Schulmann, die seit dem Krieg im deutschen Exil
       lebt, nennt das immer brutalere Vorgehen des Machterhalts „Abrechnungen auf
       Steroiden“. Es reiche nicht mehr, seine Gegner hinter Gitter zu bringen, es
       müssten demonstrativere Bestrafungsmethoden her.
       
       ## Drecksarbeit für das Regime
       
       Und es trifft nicht mehr „nur“ die offensichtlichen Kritiker*innen. Nicht
       die unabhängigen Journalist*innen, die erniedrigt, geschlagen, getötet
       werden, nicht die Oppositionspolitiker*innen, die diffamiert, vergiftet,
       erschossen werden. Es trifft auch die, denen das Regime gestern noch höchst
       dankbar war, weil sie die Drecksarbeit für dieses Regime erledigt hatten.
       
       Prigoschin war ein Geschöpf des Systems Putin, er war kein Oppositioneller.
       Sein Tod und der Umgang damit zwingen die Elite dazu abzuwägen: Reicht ihr
       noch der Status quo, oder müsste sich etwas ändern?
       
       Die russische Elite ist eine alte, sie hat sich seit den 1990er Jahren
       herausgebildet und seit Putins Machtantritt ihre Pfründen vermehrt.
       Zumindest gilt das für diejenigen, die Putins Spiel mitspielen wollten und
       wollen. Diese Elite hat sich kaum erneuert. Es geht den Menschen um den
       Erhalt ihrer Privilegien und darum, diese an ihre Kinder weiterzugeben.
       
       Noch fahren sie gut mit dem, was das System Putin ihnen bietet. Was aber,
       wenn sich einer findet, der noch weiter zu gehen bereit ist als Prigoschin,
       und das Kalkül, dadurch etwas zu gewinnen, in den Augen mancher aufgeht?
       Solche Perspektiven sind reine Spekulation, machen aber das System noch
       instabiler. Instabilität begegnet Putin mit Repressionen. Andere Mittel,
       sich seiner Macht sicher zu sein, hat er nicht mehr.
       
       25 Aug 2023
       
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