# taz.de -- Lena Kaiser Marzipan: Bodenständig, nicht am Boden
       
       Sollen doch die Leute in Hamburg und Berlin stinknormalen Dingen ständig
       neue Namen geben, um sich zu versichern, immer auf dem Laufenden zu sein.
       In Bremerhaven lacht man darüber bestenfalls müde. Die Stadt ist auf dem
       Boden geblieben. Hier verkauft man niemandem ein bisschen Mehl, Hefe,
       Wasser und Salz als Baguette. Selbst in einem der schicksten Restaurants
       nahe dem Weserdeich heißt das immer noch: Stangenbrot. Bei einem der
       größten kulinarischen Feste kommt der Krabbenteller auf den Tisch, und wer
       richtig gut einkaufen will, geht nicht etwa in irgendein Frischeparadies,
       sondern, wie sich das gehört, auf den Wochenmarkt.
       
       Die Bremerhavenerin in mir, zu der ich mich immerhin bis zum Abitur
       entwickeln durfte, ist eher unanfällig für Verblendungen. Während man
       einander in Hamburg stets versichert, „die schönste Stadt der Welt“ zu
       bewohnen, kommt den Leuten von der Wesermündung höchstens ein „joa,
       Bremerhaven macht sich“ über die Lippen. Ein Zuspruch, der an sprühenden
       Optimismus grenzt. Zumindest verglichen mit der Schwermut, die hier noch in
       den Achtzigern und Neunzigern vorherrschte.
       
       Bremerhaven hatte es damals nicht leicht. Nach der Werftenkrise, der
       Fischereikrise und dem Abzug der Amis gab es erst mal wenig Grund, auf den
       Fortschritt zu hoffen.
       
       Orte prägen und formen Sichtweisen. Mit dem Ergebnis, dass wir uns schon
       als Fünftklässler:innen in dieser Grundstimmung eingerichtet hatten und
       immer wieder Sätze sagten wie: „Bremerhaven ist scheiße.“
       
       Wir hatten keine Ahnung, wie falsch wir damit lagen. Auch ich habe das erst
       mit Abstand erkannt. Wo hätte ich sonst gelernt, dass man sich bei
       Sturmflut am besten auf dem Deich in den Wind lehnt, bis es einem den Atem
       verschlägt.
       
       Auch die Sichtweisen von außen werden bis ins Statische geformt. In den
       Medien gilt Bremerhaven meist als eine Stadt am Boden.
       „[1][Kreuzfahrtschiff im Hafenbecken gesunken]“, „[2][Bremerhavens schiefer
       Molenturm“, „Desaster mit Ansage“], „[3][Als Bremerhavens Hoffnung
       platzte]“, „[4][Wo Armut Alltag ist: Leben in Bremerhaven-Lehe]“ und
       „[5][In Bremerhaven kommt der Tod am frühesten]“.
       
       Vor allem eine Nachricht prägt das Bild der Stadt: Jahr für Jahr steht
       Bremerhaven im Bericht des Schuldneratlas da als die Schuldnerhochburg
       Deutschlands und Kamerateams suchen hier vor allem eins: die Spuren der
       Armut. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von 18.590 Euro, mit dem
       Bremerhaven Rang 398 von 401 unter den bundesdeutschen Städten bekleidet,
       wirft ein düsteres Licht auf die Stadt. Auch wenn die deutlich günstigeren
       Lebenshaltungskosten das Bild relativieren. Mit dem Etikett ist nicht genug
       über diesen Ort gesagt.
       
       Für eine Stadt ihrer Größe verfügt Bremerhaven über beachtlich viel
       Weltgeist. Wäre Bremerhaven eine Süßigkeit, sie wäre Marzipan – gibt gute
       Energie und ist besonders beliebt an Weihnachten und zu Ostern.
       
       Berlin wäre eine Schnapspraline, eigentlich nur zu bestimmten Jahreszeiten
       genießbar und auf Dauer nicht gesund.
       
       12 May 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.spiegel.de/panorama/unwetter-kreuzfahrtschiff-im-hafenbecken-gesunken-a-281747.html
 (DIR) [2] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/molenturm-bremerhaven-101.html
 (DIR) [3] https://www.tagesschau.de/inland/mittendrin/bremerhaven-mittendrin-101.html
 (DIR) [4] https://www.zdf.de/dokumentation/37-grad/37-wo-armut-alltag-ist-100.html
 (DIR) [5] https://www.br.de/radio/br24/sendungen/reportage/bremerhaven-lebenserwartung-armut-100.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lena Kaiser
       
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