# taz.de -- Gegen den Strich
       
       > Schönheitsideale und Vorstellungen von Weiblichkeit werden seit
       > Jahrzehnten kritisch diskutiert. Doch der Druck, Make-up zu tragen, ist
       > auch 2022 noch immer enorm. Entscheidungsfreiheit für weiblich gelesene
       > Menschen ist kaum gegeben
       
 (IMG) Bild: Schminken kann auch eine Form des Experimentierens sein
       
       Von Nadja Kutscher
       
       Als Moderatorin Jana Azizi Mitte Oktober die Bühne einer RTL-Live-Show ohne
       Make-up betritt, denken viele Zuschauer:innen vermutlich im ersten
       Moment, sie sei zu spät am Set erschienen. In Wahrheit führte sie
       absichtlich ungeschminkt durch eine Sendung zum Thema Schönheitswahn. Der
       Überraschungseffekt wirkte offenbar: Eine Nutzerin bei Instagram schrieb,
       sie hätte vor Freude laut aufgeschrien. Kein Wunder, ist es doch noch immer
       absolut untypisch, Frauen in prominenten Positionen mit blankem Gesicht zu
       sehen. Und das, obwohl Schönheitsideale und Vorstellungen von Weiblichkeit
       seit Jahrzehnten kritisch diskutiert werden.
       
       Einer Beauty-Studie des Fernsehsenders QVC und Statista aus dem Jahr 2017
       zufolge nutzen 72 Prozent der deutschen Frauen Make-up. Ein interessanter
       Hinweis auf die Diskrepanz zwischen selbstbewusster Nutzung und
       gesellschaftlich erzwungenem Schminken findet sich jedoch in einer bereits
       im Jahr 2000 durchgeführten Umfrage: 78 Prozent gaben damals an, Make-up zu
       nutzen, doch nur 49 Prozent sagten, sie würden sich auch wirklich gerne
       schminken. Während aktuellere Zahlen zu dieser Fragestellung fehlen, deuten
       jüngere Umfragen zumindest an, dass die Nutzung von Make-up insgesamt
       stärker in Frage gestellt wird: In einer US-Studie gaben deutlich mehr
       Frauen an, sich nicht zu schminken, und deutlich weniger, sich täglich zu
       schminken, als zum Anfangszeitpunkt der Untersuchung vier Jahre zuvor. Im
       internationalen Vergleich finden sich 41 von 100 deutschen Frauen ohne
       Make-up schön, während es in China nur 20 sind.
       
       Der Druck, Make-up zu tragen, der gerade auf weiblich gelesenen Personen
       lastet, ist groß. Sei es im Büro, zu Feierlichkeiten, zum Ausgehen – geht
       Frau ungeschminkt, läuft sie damit auch heute noch Gefahr, verwunderte oder
       ablehnende Blicke auf sich zu ziehen. Die meisten von uns haben vermutlich
       schon einmal von einer Freundin den Spruch gehört, sie würde „ungeschminkt
       nicht einmal den Müll rausbringen“. Das hängt auch damit zusammen, dass das
       Aussehen von Frauen in der Öffentlichkeit grundsätzlich ständig bewertet
       wird. Würde die Freundin ungeschminkt den Müll rausbringen oder gar ohne
       Make-up im Büro erscheinen, würde ihr vermutlich jemand sagen, sie sehe
       krank oder abgeschlagen aus.
       
       ## Gegen die Stigmatisierung
       
       Auf der anderen Seite nutzen unzählige Frauen Make-up als Ausdruck der
       eigenen Persönlichkeit oder aus purer Freude am Experimentieren. An vielen
       Orten existiert Make-up längst losgelöst von starren Geschlechterbildern.
       Und auch vielen Menschen mit unreiner Haut oder Hautkrankheiten helfen
       dekorative Kosmetika, gesellschaftlicher Stigmatisierung aus dem Weg zu
       gehen und selbstbewusst aufzutreten.
       
       Seit einigen Jahren mehren sich Trends zum natürlichen oder fehlenden
       Make-up. Melisa Raouf trat kürzlich erstmals in der Geschichte der „Miss
       England“ in einem Finale ungeschminkt auf. Auf Instagram erklärte sie, sie
       habe sich früher ohne Make-up stets unvollständig gefühlt – dabei solle
       Make-up doch aus freien Stücken, nicht unter gesellschaftlichem Zwang
       getragen werden. Ähnlich argumentierte schon 2016 die Sängerin Alicia Keys.
       Sie habe das Haus nie ohne Make-up verlassen, aus Angst, ungeschminkt
       fotografiert zu werden. Als sie sogar den roten Teppich der MTV Video Music
       Awards ungeschminkt betrat, gab es kaum eine Plattform, auf der nicht
       darüber diskutiert wurde.
       
       Auch wenn Keys von vielen Seiten für ihre Haltung und ihren Auftritt
       applaudiert wurde, gab es viele Stimmen, die ihr die freie Entscheidung
       über ihr Styling schlichtweg nicht zugestehen wollten. Die Kommentarspalten
       waren gefüllt mit Make-up-Tipps und Beurteilungen ihres angeblich
       unpassenden Auftritts. Es schien, als fühlten sich viele Menschen durch die
       individuelle Entscheidung der Sängerin bevormundet. Offenbar war der
       Eindruck, Keys wolle mit ihrem Statement allen anderen das Tragen von
       Make-up verbieten, so weit verbreitet, dass sie sich kurz darauf zu einer
       Klarstellung bemüßigt sah: Nur weil sie sich nicht schminke, heiße das
       nicht, dass sich auch sonst niemand schminken dürfe.
       
       Wo sich Menschen in prominenter Position, wie Keys oder auch Raouf, gegen
       Make-up entscheiden, machen Zuspruchsbekundungen jedoch auch deutlich, dass
       ein solches Statement nicht unbedingt von allen Menschen als Mutmacher für
       mehr Entscheidungsfreiheit verstanden wird. Immer wieder ist in Kommentaren
       die Rede davon, Keys habe derart reine Haut und so perfekte Wangenknochen,
       dass sie kein Make-up brauche. Auch wenn der Verzicht als Botschaft an alle
       gemeint sein mag, ist zweifelhaft, wie viel davon bei Menschen verfängt,
       die Schönheitsnormen nicht im gleichen Maße entsprechen und so davon
       ausgehen müssen, eher keinen Zuspruch dieser Art zu ernten. Zu wenig, zu
       grell, zu auffällig, zu blass – lobende, kritisierende und misogyne
       Äußerungen bleiben gerade bei Bildern von Personen mit medialer Reichweite
       nicht aus.
       
       Moderatorin Jana Azizi erntete nach ihrem Make-up-freien Auftritt viel
       Zuspruch. Doch schaut man sich die Kommentare auf ihrem Instagram-Account
       genauer an, wird deutlich: Selbst im Lob verstecken sich oft Sexismus und
       die althergebrachte Bewertung von Frauenkörpern entlang eines
       standardisierten Schönheitsideals.
       
       So etwa, wenn darauf gepocht wird, Azizi habe doch gar kein Make-up nötig
       und sei pur „viel schöner“ oder „begehrenswerter“. Was als Kompliment
       gemeint sein mag, driftet schnell ab in eine erneute Bevormundung. Wie auch
       in anderen Diskussionen, die soziale Kategorien, Identität und Emanzipation
       berühren, werden auch in Sachen Make-up häufig klare Haltungen wahlweise
       verlangt oder angedichtet: ist man nun für oder gegen Make-up, verlangt die
       Öffentlichkeit zu wissen – und zwar per se! Hat sich jemand gegen Make-up
       entschieden, wird geklatscht, getadelt, verurteilt oder verpflichtet.
       
       Abseits konservativer Geschlechterbilder wird Make-up auch bei Männern
       immer beliebter. Wer dabei aber automatisch an ein Einreißen der
       Gender-Grenzen denkt, irrt. Ein britischer Hersteller von Männerkosmetik
       entschied sich für den Markennamen „War Paint“, also Kriegsbemalung. In
       einem firmeneigenen Video fällt der Satz: „It’s not called Make-up, it’s
       called War Paint.“ Ganz so, als müsse sichergestellt sein, dass bloß
       nieMANNd die kernigen, maskulinen Produkte mit Frauenkram verwechselt. Auch
       daran trägt das weit verbreitete Narrativ seinen Anteil. Barbara
       Schöneberger erntete 2009 Kritik, als sie forderte, „Männer sollen auch
       Männer bleiben“ und sich bitte nicht schminken. Trotz sich vorsichtig
       wandelnder Beauty-Ideale gilt Schminke bei Männern für viele nach wie vor
       als weiblich und damit unpassend.
       
       Und doch gibt es auch eine Seite des Make-ups, die genau diese limitierende
       Gender-Binarität ins Wanken bringt. Schließlich kann Make-up für Menschen
       mit ganz unterschiedlichen Identitäten völlig verschiedene Bedeutungen
       haben. Schon vor Jahrzehnten machten Performer wie David Bowie oder Prince
       vor, wie Make-up dazu genutzt werden kann, stereotype Geschlechterbilder zu
       hinterfragen. Gerade für Menschen, die sich im binären Geschlechterschema
       nicht wiederfinden oder die von der Öffentlichkeit dem falschen Geschlecht
       zugeordnet werden, kann Make-up die eigene Identität zum Vorschein bringen
       und schützen. Die US-Schauspielerin und Aktivistin Laverne Cox beschreibt,
       wie ihr Make-up im öffentlichen Raum Sicherheit gegeben habe – ohne Make-up
       auf der Straße als Mann angesprochen zu werden, habe sich wie ein Versagen
       angefühlt, da ihr weibliches Selbst nicht gesehen worden sei.
       
       Make-up kann nicht nur verstecken, an Schönheitsideale anpassen oder als
       lästige Pflicht empfunden werden. Es kann Menschen zu sich selbst finden
       lassen und dafür sorgen, dass sie von anderen so gesehen werden, wie sie
       gesehen werden möchten – und zwar völlig unabhängig von Genderlinien. Es
       wäre eindimensional und unfeministisch, Make-up ausschließlich mit
       Beauty-Wahn und Vorstellungen sexualisierter Weiblichkeit zu verbinden.
       
       ## Für eine andere Schönheit
       
       Indem Menschen, gerade auch aus marginalisierten Communitys, Make-up nutzen
       und damit andere Formen von Schönheit zeigen, kann Kosmetik ins Gegenteil
       standardisierter Schönheitsvorstellungen verkehrt werden. Die Bedeutung
       eines Lippenstifts ist so vielfältig wie die Menschen, die ihn nutzen.
       Gleichzeitig sollten wir immer dann, wenn Make-up nicht Freude bringt,
       sondern lästiges Übel ist, die Reißleine ziehen. Und wir müssen aufhören,
       anderen vorschreiben zu wollen, wie sie gut – besser – am besten aussehen.
       
       24 Nov 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nadja Kutscher
       
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