# taz.de -- Recht auf Abtreibung in den USA: Der Friedhof linker Bewegungen
       
       > Die US-Demokraten machen gern auf Vorkämpfer für Frauenrechte. Nur: Für
       > den konsequenten Schutz beim Recht auf Abtreibung stehen auch sie nicht.
       
 (IMG) Bild: Anfang Juli: Aktivistinnen und Frauenrechtlerinnen protestieren vor dem Weißen Haus in Washington
       
       Ich fühle mich ein wenig wie Sisyphos, wenn ich über Politik in den USA
       oder mein eigenes politisches Engagement nachdenke. Ich wurde 2006 durch
       die Bewegung gegen den Irakkrieg politisiert und habe in meinem
       Erwachsenenleben erfahren, wie das Recht auf Abtreibung durch das Urteil
       Roe v. Wade zu einem ewigen Wahlkampfthema wurde. Ich sah, wie [1][die
       Demokratische Partei] den Diskurs über und die politische Mobilisierung für
       Frauenrechte ausgenutzt hat, um Wahlen zu gewinnen, ohne jemals ihre
       Versprechen einzulösen.
       
       Zehn Jahre lang wurde eindringlich vor einer Rücknahme von Roe v. Wade
       gewarnt, aber den Demokraten gelang es nicht, Schwangerschaftsabbruch
       gesetzlich zu schützen. Wie es aussieht, verursacht all die moralische
       Empörung ebenso wie Präsident Joe Bidens Aufruf, mit der Stimmabgabe im
       November dafür zu sorgen, dass die Republikaner kein landesweites
       Abtreibungsverbot installieren, eine [2][kollektive senile Demenz.]
       
       Ich war von 2006 bis 2008 eine Aktivistin der wiederbelebten Organisation
       [3][Students for a Democratic Society (SDS)] und sah, wie meine
       Mitstreiter*innen, die ihre Regierung kritisiert und den Irakkrieg strikt
       abgelehnt hatten, auf die Straße gingen, um Wahlkampf für Obama zu machen.
       In Obamas erstem Jahr im Weißen Haus, als die Demokraten für zwei Jahre im
       Kongress eine nicht überstimmbare Mehrheit hatten, erlebte ich die
       Einverleibung wichtiger radikaler Gewerkschaften ins demokratische Lager,
       weil es Obama so wollte. Ich erlebte, wie der [4][Employee Free Choice
       Act], den Obama im Wahlkampf den Gewerkschaften versprochen hatte und der
       die Bildung von Gewerkschaften erleichtern sollte, im Senat nicht mal
       diskutiert wurde.
       
       Dann strichen die Demokraten das Recht auf Finanzierung einer Abtreibung
       aus Bundesmitteln selbst im Fall einer Vergewaltigung, von Inzest oder
       eines Risikos für das Leben der Mutter aus dem Entwurf für Obamacare. Die
       Gesundheitsreform drohte zu scheitern, weil die Demokraten sich um
       Schwangerschaftsabbruch stritten. Statt den freien Zugang zu Abtreibungen
       gesetzlich abzusichern, blieb dies bei der Verabschiedung von Obamacare auf
       der Strecke. Stattdessen unterschrieb Obama einen Exekutiverlass, durch den
       bestimmte Einschränkungen für Frauen, die abtreiben wollten,
       festgeschrieben wurden. Damals begann der Prozess meiner Abwendung von der
       Demokratischen Partei.
       
       Oft las ich in den folgenden zehn Jahren von immer neuen Beschränkungen des
       Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in konservativen Bundesstaaten, aber die
       Demokraten hielten still. Und jetzt, im Jahr 2022, bitten sie um meine
       Stimme, um ein Recht zu schützen, das sie bisher nicht schützen wollten?
       Auf gar keinen Fall!
       
       Rückblickend auf die 50 Jahre, in denen Roe v. Wade Bestand hatte, und die
       davor liegenden zehn Jahre der Frauenbewegung wird deutlich, dass das
       Urteil von 1973 nicht der Gipfel der Frauenbefreiung war, sondern ihr
       kleinster gemeinsamer Nenner. Die Demokraten missbrauchten das Thema, um
       die Frauenbewegung in eine Ecke zu drängen, in der es nur noch um
       rechtliche Fragen geht. Dabei ging nicht nur die Vorstellung verloren, was
       alles möglich gewesen wäre, sondern auch die politische Dynamik, die eine
       tiefer gehende gesellschaftliche Transformation beabsichtigt hatte.
       
       Roe v. Wade ist eines der konkretesten Beispiele, wie die Demokratische
       Partei zum [5][Friedhof für linke Bewegungen] wird, für die Rechte und die
       Freiheit von Frauen und der Arbeiterklasse. Der Kulturkrieg um Abtreibung
       geht an den Bedürfnissen armer und arbeitender Frauen im 21. Jahrhundert
       vorbei. Es bedarf eines anderen Kampfes für ihre Rechte und Interessen.
       
       Aus dem Englischen von Stefan Schaaf
       
       24 Jul 2022
       
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