# taz.de -- berliner szenen: Trouble am Bahnhof Südkreuz
       
       Ich stehe in der Schlange vor dem Supermarkt. Unter der Maske beschlagen
       meine Brillengläser. Dann ein dumpfes Klatschen. Direkt neben mir hat eine
       Securitykraft einen Treber ins Gesicht geboxt. Ich nehme die Brille ab,
       sehe, wie der Mann taumelt, sich kurz vor dem Boden wieder fängt. Und auf
       den Supermarktwächter zugeht, der ihm erneut droht. Eine Freundin des Manns
       fleht den Security an, nicht weiterzumachen. Ich gehe im Krebsgang Richtung
       Polizeiwache, dort rütteln schon zwei Männer an der Tür.
       
       Mit etwas Verzögerung schwärmen die Beamten aus, zwei Frauen, die sich um
       das Opfer kümmern, und ein Mann, der die Personalien des Wachmanns
       aufnimmt: „Ich kenne die Kumpel, ja, aber trotzdem ist das
       Körperverletzung.“ Leicht geschockt betrete ich den Supermarkt, ziehe eine
       Lauchstange, Bacon und Champignons aus den Stiegen. Schaufle zwei Packungen
       Gummibärchen in meinen Korb. Dieses Erlebnis verstärkt meine Gefühlslage.
       
       Seit dem Angriff auf die Ukraine verfolge ich täglich die Posts von
       Bekannten, Sergij in Charkiw, der Medikamente in die Stadt fährt, die
       Bilder von Lesungen und Konzerten in den Bunkern, die Liveticker über den
       Krieg und fühle mich paralysiert. Vielleicht ist paralysiert nicht das
       richtige Wort, ich mache ja nicht nichts, aber ich habe den Eindruck, ich
       mache die ganze Zeit dasselbe, um keine Entscheidungen treffen zu müssen.
       Wie diese Pasta Bolognese, deren Reste heute schon zum dritten Mal –
       gestreckt mit Nudelwasser – auf dem Tisch dampfen.
       
       Die Polizisten nehmen immer noch Aussagen auf, ich stehe unschlüssig
       daneben. Soll ich mich als Zeuge melden?
       
       Über dem Bahnhof Südkreuz hängt ein gleißender Abendhimmel, irgendwie
       irritierend schön. Der Mond, dessen Konturen ausfransen, beruhigt mich für
       einen Moment. Timo Berger
       
       9 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Timo Berger
       
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