# taz.de -- Jugendproteste nach Unfällen: Verlorene Zukunft
       
       > Zwei junge Menschen sind in Italien bei Praktika gestorben.
       > Schüler:innen protestieren. Das ist verständlich, die Problemlage ist
       > allerdings komplex.
       
 (IMG) Bild: Schüler:innenprotest in Rom am 4. Februar
       
       Lorenzo Parelli hatte keine Chance. Das von oben herabstürzende
       Doppel-T-Eisen, 150 Kilo schwer, traf ihn direkt am Kopf. Am Unfallort, in
       einer Metallbaufirma in der norditalienischen Provinz Udine, konnten die
       herbeigeeilten Sanitäter nur noch den Tod des 18-Jährigen feststellen.
       Jener Freitag im Januar war, so berichteten es Italiens Medien, der letzte
       Tag im Praktikum des jungen Mannes.
       
       Auch Giuseppe Lenoci hatte keine Chance. Er saß auf dem Beifahrersitz des
       Lieferwagens einer Firma für Heiz- und Klimatechnik in Fermo, an Italiens
       Adriaküste. Als das Fahrzeug am letzten Montag auf der Rückfahrt von einem
       Kundeneinsatz von der Straße abkam und gegen einen Baum prallte, wurde es
       auf der Beifahrerseite völlig zerquetscht – der 16-Jährige starb noch am
       Unfallort.
       
       Eines eint diese beiden tragischen Fälle: Weder Lorenzo noch Giuseppe
       gehörten zum regulären Personalstamm der Firmen, als sie während der
       Arbeitszeit den Tod fanden. Sie absolvierten Praktika, die Teil ihrer
       Ausbildung waren.
       
       Ebendies löste den [1][zornigen Protest Zehntausender italienischer
       Schüler*innen aus.] In Mailand, in Rom, in Neapel und vielen anderen
       Städten gingen sie am 28. Januar auf die Straße statt zum Unterricht, um
       gegen die „Alternanza scuola- lavoro“ – den verpflichtenden Wechsel
       zwischen Schule und Arbeitspraktikum – zu demonstrieren; in Turin, in Rom,
       in Neapel kam es zu rabiaten Schlagstockeinsätzen der Polizei. Seit der im
       Jahr 2015 durchgezogenen Schulreform gibt es an allen italienischen
       Oberschulen (die die Jahrgangsstufen 9 bis 13 abdecken) Pflichtpraktika in
       der Arbeitswelt. Für Gymnasiast*innen stehen in den letzten drei
       Schuljahren insgesamt 90 Stunden auf dem Plan, in den berufsorientierten
       Oberschulen werden es 180 Stunden.
       
       ## Plausibel und surreal
       
       Auch an diesem Freitag sind wieder Proteste angesagt, befeuert durch den
       zweiten Todesfall binnen weniger Wochen. „Diese Praktika sind weder Schule
       noch Arbeit, sondern Ausbeutung zum Nulltarif“, brachte eine Vertreterin
       des überregionalen „Schülernetzwerks“ ihre Sicht der Dinge auf den Punkt,
       sie gehörten deshalb abgeschafft. Sie trifft damit den vorherrschenden Ton:
       Auch auf den Demos dieses Freitags wird mit Plakaten wie „Blut klebt an
       euren Händen“ wieder die Streichung der Praktika für Oberschüler*innen
       gefordert werden.
       
       So plausibel dieser Protest erscheint, so surreal ist er auch. Denn weder
       Lorenzo noch Giuseppe besuchten eine Oberschule, weder der eine noch der
       andere leistete deshalb eines der sogenannten „Alternanz“-Kurzpraktika ab.
       Beide absolvierten mehrjährige berufsvorbereitende Kurse, in denen –
       ähnlich wie in der dualen Berufsausbildung in Deutschland – Phasen des
       Schulunterrichts und Phasen praktischer Ausbildung im Betrieb einander
       ablösen.
       
       Doch in der öffentlichen Auseinandersetzung, geführt von den Organisationen
       der Schüler*innen, von den Medien, auch von den Gewerkschaften der
       Lehrer*innen, wurden nicht etwa diese berufsvorbereitenden Kurse zum Thema,
       sondern die „Alternanz“ an den Oberschulen. Wer möchte, kann die Debatte
       deshalb einfach unter dem Titel „groteskes Missverständnis“ abtun und
       beiseitelegen.
       
       Das aber wäre zu kurz gesprungen. Ernst nehmen sollte man die Welle des
       Protestes durchaus: als Ausdruck des tiefen Unbehagens, der Ängste auch,
       die Italiens Schüler*innen umtreiben, wenn sie an ihre Zukunft denken,
       vorneweg an ihre berufliche Zukunft.
       
       ## Glücklich mit 5 Euro pro Stunde?
       
       Die Aussichten für heute 18-Jährige sind in der Tat alles andere als rosig.
       Bei den sogenannten NEETS („Neither in Employment, Education or Training“ –
       „weder in Beschäftigung, noch schulischer oder beruflicher Ausbildung“)
       [2][schlägt Italien mit über 2 Millionen jungen Menschen alle europäischen
       Rekorde.] Glücklich dürfen sich diejenigen fühlen, die überhaupt einen Job
       finden, und sei der Vertrag noch so prekär, die Entlohnung – i[3][rgendwo
       bei 5 Euro pro Stunde] – noch so miserabel.
       
       Das hat viel zu tun mit einem Land, dessen Ökonomie seit Jahrzehnten
       stagniert, viel mit einem durchflexibilisierten Arbeitsmarkt (ganz ohne
       Mindestlohn), der es Unternehmen erlaubt, junge Menschen zu noch so miesen
       Konditionen anzuheuern – viel aber auch mit einer Schule, die ihren
       Bildungsauftrag völlig abgekoppelt von der Arbeitswelt wahrnimmt.
       
       Einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten: dies wollte die
       Schulreform von 2015 mit der Einführung der Praktika in der Arbeitswelt.
       Die Schüler*innenorganisationen geißeln jetzt eben diesen Beitrag
       als „Vorbereitung auf die Ausbeutung“ – und wer wollte es ihnen verdenken
       angesichts der realen Perspektiven, die junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt
       haben?
       
       Das Ihre tat die Regierung seinerzeit bei der Einführung der „Alternanza“,
       als sie stolz verkündete, die McDonald’s-Filialen im ganzen Land seien
       bereit, Praktikant*innen aus den Schulen aufzunehmen, ganz so, als
       öffne das einwöchige Grillen von Burgern ganz neue Blicke auf einen
       vielversprechenden Berufsstart.
       
       Ob Lorenzo Parelli und Giuseppe Lenoci Opfer der Profitgier wurden, wie es
       auf den Demonstrationen heißt, steht vorerst dahin; die Ermittlungen laufen
       noch. Dass sie zum Symbol landesweiten Protestes werden konnten, hat
       dennoch seinen guten Grund: Eine ganze Generation fürchtet, auf dem Altar
       des Profits geopfert zu werden.
       
       17 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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