# taz.de -- Angela Merkel vs. Sebastian Kurz: Aus dem Drehbuch des Charismatikers
       
       > Der Zapfenstreich für die Bundeskanzlerin fand am selben Tag statt, wie
       > der Kanzlerrücktritt in Österreich. Das sind auch die einzigen
       > Parallelen.
       
 (IMG) Bild: Als sie beide noch Kanzlerin und Kanzler waren, Besuch von Kurz bei Merkel in Berlin 2018
       
       Wenn das Jahr zu Ende geht, ist es Zeit für einen Rückblick. Und da sticht
       einem – um einmal nicht über die Pandemie zu sprechen – eine erstaunliche
       Koinzidenz ins Auge: [1][Der „große Zapfenstreich“ für Angela Merkel] fand
       genau an jenem Tag statt, an dem Sebastian Kurz seinen endgültigen
       Rücktritt verkündete.
       
       Solch ein zeitgleicher Abgang von der politischen Bühne zweier so
       unterschiedlicher Politiker drängt den Betrachter zum Vergleich. Und da
       zeigt sich: Die parallelen Geschehnisse bieten eine erstaunliche Lektion in
       Sachen Charisma.
       
       Charisma – das sind „Gnadengaben“, so der Soziologe Max Weber, etwa die
       Macht des Geistes oder der Rede. Sind diese Gaben außeralltäglich, gehen
       sie über das gewöhnliche Maß hinaus, dann werden sie zu magischen
       Fähigkeiten. Dann können sie eine affektive Hingabe an die Person des
       Herrschers bewirken.
       
       Angela Merkel ist ein Charisma-Sonderfall. Ihr Charisma liegt nicht an
       außeralltäglichen Gaben. Ganz im Gegenteil. Es liegt vielmehr in ihrer
       Alltäglichkeit, ihrer Sachlichkeit. Eine Verzauberung durch Nüchternheit.
       
       ## Verzauberung vs. Veralltäglichung
       
       Diese stand auch nicht am Anfang ihres Aufstiegs. Merkel ist vielmehr das
       erstaunliche Kunststück einer langsamen, einer ansteigenden Verzauberung
       gelungen. Eine Verzauberung, die nach und nach sogar ihre (linken)
       politischen Gegner erfasst hat. Das ist das vielleicht merkwürdigste
       Charakteristikum dieses Merkel-Charismas. Üblicherweise wirkt das Charisma
       auf die Gefolgschaft.
       
       Bei Merkel aber konnte man durchaus Gegner ihrer Politik sein – von
       Griechenland bis zu Rüstungsexporten – und dennoch dem Zauber ihrer
       uneitlen Nüchternheit erliegen. So, dass sie eben der typischen Gefahr des
       Charismatikers entging: der Veralltäglichung. Wie sollte sie sich auch
       entzaubern – lag ihr Zauber doch gerade in ihrer Alltäglichkeit. So ging
       sie ab in ihrer vollen Charisma-Blüte.
       
       Sebastian Kurz ist aus Charisma-Perspektive das exakte Gegenteil. Der
       klassische Typus sozusagen. Bei ihm ging es von Anfang an um das Herstellen
       von Charisma. Das gewandte Auftreten, die geschickte Rhetorik, das
       knallharte Kalkül bei stets angenehmen Umgangsformen – ein ganzes Set zur
       Darstellung des Außeralltäglichen. (Wobei das Außeralltägliche sich
       bekanntlich in der Darstellung erschöpft hat.)
       
       Eben deshalb konnte er die Gegner seiner Politik auch nie als Person
       überzeugen – dafür aber seine Gefolgschaft umso mehr. Kurz folgte
       punktgenau Max Webers „Drehbuch“ des Charismatikers: So war auch sein Stab
       ausgelesen nach persönlicher Hingabe, nicht nach Fachqualifikation. Es
       fehlte der rationale Begriff der „Kompetenz“, wie Max Weber vor über 100
       Jahren schrieb.
       
       ## Wenn der Glaube fällt, fällt auch die Herrschaft
       
       Aber es ereilte ihn damit auch das klassische Schicksal des Charismatikers:
       Denn die Gefolgschaft folgt nur, solange diesem magische Fähigkeiten
       zugeschrieben werden. Solange sich dieser bewährt. Wenn der Glaube an ihn
       fällt, so Weber, fällt auch die Herrschaft. Mit dem Glauben erlischt auch
       das Charisma. [2][An seine Stelle tritt eine Entzauberung.]
       
       Genau das trat bei Kurzens Rücktrittsrede ein. Da passte es gut, dass er
       meinte, das Feuer für die Politik sei in ihm erloschen (oder gedämpft). So
       erlischt auch das Charisma und macht einer gnadenlosen Banalität, einer
       rabiaten Veralltäglichung Platz.
       
       Ein Punkt noch, der Merkel und Kurz als politische Figuren trennt, sie zu
       Gegensätzen macht: Merkel stammt aus einer anderen Welt als jener, in der
       sie agierte. Sie kam von einem anderen „Ort“, den es nicht mehr gab. Sie
       stammte aus einer anderen Zeit. Politiker, die eine Zeitenwende verkörpern
       – also wirklich verkörpern, ohne sie durch Überanpassung zu vertuschen
       versuchen –, solchen Politikern kam schon alleine daraus ein
       Charisma-Moment zu.
       
       Denn sie halten inmitten der Realität und des Alltags immer ein
       geschichtliches Werden in Erinnerung. [3][Sebastian Kurz hingegen fehlt
       jede historische Dimension]. Das liegt nicht einfach an seiner Jugend. Das
       ist nicht alleine eine Frage der Geburt. Es liegt vielmehr daran, dass er
       zu ident mit seiner Zeit ist. Dass er diese eins zu eins dargestellt hat.
       
       28 Dec 2021
       
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