# taz.de -- Kritik an Thesen von Rudolf Steiner: Der Anthroposoph, ein Rassist?
       
       > Mit Waldorfschulen und Bioprodukten ist die Anthroposophie erfolgreich.
       > Immer wieder aber gibt es Kritik an Aussagen von Rudolf Steiner, dem
       > Begründer dieser Weltanschauung. Was ist da los? Eine Erkundung.
       
 (IMG) Bild: Undatiertes Porträt von Rudolf Steiner (1861-1925)
       
       Von [1][WOLFGANG MÜLLER] 
       
       14.10.21, taz Verlag | Es gibt sie, die schwer erträglichen Stellen, die
       von Steiner-Kritikern unermüdlich zitiert werden. Da bezeichnet er Schwarze
       als „passiv“ und nennt die ersten Amerikaner, die „Indianer“, „eine
       primitive Urbevölkerung“. Den Europäern hingegen bescheinigt er die
       Entwicklung eines selbstständigen Denkens und fügt grob hinzu: „das haben
       die Asiaten nicht“.
       
       Diesen Stellen allerdings stehen ganz andere gegenüber: voller Respekt für
       außereuropäische Kulturen und mit scharfer Kritik etwa an nationalistischen
       Tendenzen. Es sei „etwas Furchtbares“, so [2][Rudolf Steiner], wie die
       Menschen „allen Kosmopolitismus im Grunde begraben wollen“.
       
       Es scheint, als ließe sich [3][in seinem Riesenwerk] fast alles und von
       allem auch das Gegenteil belegen (es sind fast 400 Bände, weil auch seine
       Vorträge mitstenografiert wurden).
       
       ## Ein widersprüchliches Bild
       
       Ähnlich widersprüchlich erscheint das Bild auch sonst. Die eine Seite
       verweist auf einige Anthroposophen, die sich den Nazis andienten und
       jüdische Mitglieder ausgrenzten. Die andere zitiert, wie Hitler schon 1921
       in einem Artikel im Völkischen Beobachter Steiner angriff. Entsprechend
       wurde die Anthroposophische Gesellschaft zwei Jahre nach seiner
       Machtübernahme verboten.
       
       Insgesamt kann einen dieser Zitat-Battle ratlos zurücklassen. Offenkundig
       kommt man auf dieser Ebene nicht weiter. Das geht nur, wenn man nicht nur
       einzelne Stellen herausgreift, sondern sich die Mühe macht, den Kern und
       die Grundrichtung von Steiners Denken zu verstehen.
       
       Dazu muss man einen zentralen Gedanken erfassen, der sich durch sein ganzes
       Werk zieht. Es ist der Gedanke, dass die Menschheit in der Neuzeit an eine
       Schwelle gelangt ist, an der die Menschen sich in gewisser Weise neu
       verstehen müssen: nicht mehr nur von ihrer Abstammung, von Gruppe und
       Nation her, sondern als freie, autonome Individuen. Selbstverständlich ist
       jeder Mensch durch seine Herkunft geprägt, trotzdem, so Steiner, gelte es
       das eigene Dasein in einem bewussten Prozess quasi durchzuarbeiten und
       weiterzuentwickeln.
       
       ## Herausarbeiten aus Nationalismen
       
       Das ist natürlich viel verlangt. Im Grunde könnte man viele heutige
       Weltprobleme aus genau diesem Spannungsfeld erklären: dass einerseits
       dieser neuzeitliche Individualismus in allen Menschen untergründig rumort,
       dass er aber andererseits als extreme Überforderung erlebt wird.
       Entsprechend groß ist die Versuchung, doch wieder ins Gruppenhafte
       zurückzufliehen; siehe islamischer Fundamentalismus und neuer
       Nationalismus. Schon Steiner stellte fest, dass die Menschen „so wenig
       tapfer sind, sich herauszuarbeiten aus den Nationalismen“. Zugleich war er
       überzeugt, dass sich die Dinge „nicht zurückschrauben“ lassen.
       
       Er versuchte nach vorn zu blicken, seine Sicht: Die moderne Orientierung am
       einzelnen Menschen ist im Kern richtig, aber sie kann nur eine gute
       Entwicklung nehmen, wenn sie in einer Weise vertieft wird, die im heutigen
       Ego-Trubel übersehen wird. Der Mensch, so Steiner, muss sich in seinem
       ganzen Sein verstehen lernen, nicht nur wie heute im Wesentlichen als
       körperliches Wesen, sondern auch als seelisches und geistiges Wesen.
       
       Nur so könne auch die Möglichkeit entstehen, „in den andern Menschen
       hinüberzuschauen“. Nur so lasse sich also der notwendige „Gegenpol“ zur
       auseinandertreibenden Ich-Bezogenheit finden, ein sozialer Impuls, „ein
       ehrliches Interesse des einen Menschen an dem anderen“, das die Menschen in
       all ihrer Verschiedenheit zusammenführt.
       
       ## NS-Gutachten zu Anthroposophie
       
       Es sind Gedanken, die Lichtjahre von jeder rechten oder gar rassistischen
       Ideologie entfernt sind. Interessanterweise schickten die Nazis extra einen
       Gutachter los, um die Anthroposophen in dieser Hinsicht einschätzen zu
       können. Ergebnis: Diese stünden den „Gedanken von Blut, Rasse, Volk“ ganz
       fern. Und die Waldorfschulen, so das NS-Urteil, verfolgten eine
       „individualistische, nach dem Einzelmenschen ausgerichtete Erziehung, die
       nichts mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen gemein hat“.
       
       Die Nazis hatten begriffen, dass die [4][Anthroposophie] allem widersprach,
       was sie propagierten.
       
       Das heißt nicht, dass jede einzelne Steiner-Äußerung zu verteidigen wäre;
       dazu gibt es längst eindeutige Erklärungen (mehr dazu im Kasten) von
       anthroposophischer Seite. Sehr wohl kann man auch darüber diskutieren,
       inwieweit Steiners Denken eine Art kulturelles Ranking enthält, in dem die
       nord- und mitteleuropäische Kultur als impulsgebend verstanden wird.
       Andererseits schrieb er eine solche Rolle für die Vergangenheit der
       indischen und ägyptischen Kultur zu, für die Zukunft der slawischen.
       
       ## Blick auf das Gesamtbild
       
       Fest steht aber: All dies wird man nicht in einem Erregungsmodus besprechen
       können, der sich an einzelnen Formulierungen festhakt ohne jeden Sinn für
       Zusammenhänge. Dann müsste man auch (manche fordern es) Kant verdammen, von
       dem es üble Äußerungen über Schwarze gibt, und müsste Marx auf den Index
       setzen, der Basken und Bretonen „Völkerabfälle“ nannte.
       
       Steiner klang da anders: „Jedes einzelne Volk, ja sogar alle einzelnen,
       kleineren Volkssplitter haben in diesem großen Gesamtgemälde ihre besondere
       Aufgabe.“ Und dann ein Satz, der wie ein Leitmotiv seine Sicht von Mensch
       und Menschheit zusammenfasst: „Die Quellen dessen, was wir bringen können,
       liegen im Individuellen.“
       
       Man könnte mit Blick auf Steiner fragen: Ist es wirklich so wichtig, ob
       sein Werk, das vor hundert Jahren entstand, auch fragwürdige Stellen
       enthält? Oder ist es nicht wichtiger, Steiners große, bis heute relevante
       Aussagen in den Blick zu bekommen? Denn die könnten gerade einem Zeitalter,
       das hilflos zwischen Globalisierung und Individualisierung schlingert,
       größere Klarheit bringen.
       
       • Dieser Text erscheint im taz Thema Anthroposophie, Ausgabe Oktober 2021,
       Redaktion: Anna Löhlein. Frühere Ausgabe des taz Themas Anthroposophie
       [5][können Sie hier nachlesen].
       
       14 Oct 2021
       
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