# taz.de -- Bremen: Der geheime Blankoscheck: Ein Goldesel fürs arme Bremen
       
       > Wie das Land Bremen lange jeder Haushaltsnotlage trotzte, weil
       > Bürgermeister Henning Scherf einen streng unter Verschluss gehaltenen
       > Brief vom Bundeskanzler hatte
       
 (IMG) Bild: Illustration: Imke Staats
       
       Von Klaus Wolschner
       
       Wenn man bei Goolge nach „Kanzlerbrief“ sucht, ploppt als erstes ein
       Rechtfertigungsschreiben des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz gegen
       Filz-Vorwürfe auf. Aber als nächstes führt die Suche nach Bremen ins Jahr
       2000 – und zur taz.
       
       Damals regierte in Bremen Henning Scherf (SPD, 2,04 Meter) in einer großen
       Koalition mit der CDU, in Berlin regierte Gerhard Schröder (SPD, 1,74
       Meter). Und Schröder hatte ein Problem: Er bekam bei den Ländern keine
       Mehrheit für seine Steuerreform zusammen, die absehbar sehr teuer für den
       klammen Städtestaat an der Weser kommen würde.
       
       Berlins Bürgermeister Eberhard Diepgen hatte sich für seine Zusage zur
       Reform weit mehr als 100 Millionen Mark jährlich an Subventionen zusichern
       lassen, Parteifreunde warfen ihm Käuflichkeit vor. Vielleicht hätte Scherf
       sich gewünscht, dass der Koalitionspartner CDU ihm die Zustimmung
       untersagt. Stattdessen drängte ihn CDU-Chef Bernd Neumann, auch etwas
       auszuhandeln.
       
       Wochenlang gingen die Entwürfe hin und her, erinnert sich Scherf heute
       noch, dann lag er auf dem Tisch: der „Kanzlerbrief“. Ein Papier „neben
       allen Regeln“. Darin hatte Schröder hemdsärmelig versprochen, Bremen
       sollten aus der Steuerreform keine Nachteile entstehen. Weder der
       Finanzminister Hans Eichel war gefragt worden noch der
       Haushaltsgesetzgeber. Ein Genossen-Deal, streng geheim.
       
       Im Juni 2001 tauchte das Stichwort „Kanzlerbrief“ erstmals in der Bremer
       taz auf. Finanzsenator Hartmut Perschau (CDU) hatte „Einnahmeverluste aus
       der Steuerreform“ von einer Viertelmillion prognostiziert, Bremen hatte
       seine „Haushaltsnotlage“ erklärt. Aber, verkündete Perschau fröhlich, wir
       haben ja den Kanzlerbrief.
       
       Perschau behandelte ihn wie bares Geld. Henning Scherf sollte in Gespräche
       mit der Bundesregierung eintreten über die Werthaltigkeit des Briefes.
       „Eine bittere Geschichte“, erinnert sich Scherf. Und wollte die
       Peinlichkeit nicht offenlegen: Der Kanzlerbrief wurde zur geheimen
       Verschlusssache erklärt. Die taz veröffentlichte das Schreiben schließlich
       im Internet.
       
       Bei einem Gewerkschaftskongress traf Bremens Finanz-Papst, der
       Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel, im Juli 2002 auf Finanzminister Hans
       Eichel. „Hans, nimm’den Brief ernst“, habe er zu Eichel gesagt, erzählte
       Hickel. Und der Bundesminister habe geantwortet: „Alles Quatsch“.
       
       Auch Finanzsenator Hartmut Perschau kontaktierte Eichel und versuchte, ihm
       die Bremer Finanzlage zu erläutern. Er tat es langatmig, wie es seine Art
       war, Eichel warf ihn schlicht hinaus. Als sich im September 2002 erneut
       Haushaltslöcher auftaten, formulierte Senatssprecher Klaus Schloesser im
       schönsten Scherf-Neusprech: „Wir haben den ganzen Tag versucht, eine
       einvernehmliche Lesart dieses Briefs hinzubekommen.“
       
       Für die taz gab es Woche für Woche Anlässe, sich lustig zu machen über die
       heilige Kuh der großen Koalition, die Finanzpolitik. Im Januar 2004 fuhr
       Scherf mit Schröder auf Staatsbesuch nach Afrika. Scherf berichtete jovial
       von Addis Abeba und von Ghana. Aber die Journalisten interessierten sich
       nur für eines: den Kanzlerbrief. Scherf staatsmännisch: „Wir haben uns
       beide versprochen, dass wir darüber nicht reden.“
       
       Das war natürlich gelogen. Wie David gegen Goliath kämpfte die Bremer taz
       einen heroischen Kampf, parteilich bis über alle Ohren, Grundsätze der
       journalistischen Distanz etwas vernachlässigend. Der Kanzlerbrief war ein
       journalistischer Glücksfall: Es galt, die große Koalition in Bremen zu
       stürzen, und wenn das nicht gelang, wenigsten die Auflage der kleinen taz
       zu steigern.
       
       Beides misslang. Am Ende hatte die große Koalition sogar die Chuzpe, in den
       Haushaltsentwurf für das Jahr 2005 glatte 500 Millionen Euro „Einnahmen“
       auf Grundlage des Kanzlerbriefes einzuplanen. 2005, das war das „Jahr eins“
       nach den Sanierungshilfen, Bremen sollte jetzt aus eigener Kraft einen
       verfassungskonformen Haushalt aufstellen. Die grüne Oppositionsführerin
       Karoline Linnert lief zu rhetorischer Höchstform auf: Scherf und die CDU
       führten ein „Schmierentheater“ auf, der Kanzlerbrief sei reiner „Bluff“,
       die Sanierungspolitik der großen Koalition offenbar gescheitert.
       
       Im September 2005 kündigte Henning Scherf seinen Rücktritt an. Begründung:
       „Ich möchte ein Leben nach der Arbeit führen und nicht mit den Füßen zuerst
       aus dem Rathaus getragen werden.“
       
       2 Oct 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Wolschner
       
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