# taz.de -- Russischer Politologe über Corona: „Sputnik hat ein Imageproblem“
       
       > Die Impfmüdigkeit der Russ*innen ist das Resultat eines
       > Vertrauensverlustes in die Politik. Zugleich kursieren verstärkt
       > Verschwörungstheorien, so Sergei Medwedjew.
       
 (IMG) Bild: Corona-Impfung in der Moskauer Universitätsklinik
       
       taz: Herr Medwedjew, Russland war das erste Land, dass die Entwicklung
       eines Impfstoffs gegen Covid-19 gemeldet hat. Doch nach mehreren Monaten
       sind erst rund 14 Prozent der Bevölkerung geimpft. Offiziell lockt die
       Politik mit kleineren Vergütungen ohne größeren Erfolg. Ist die
       Impfkampagne fehlgeschlagen? 
       
       Sergei Medwedjew: Putins Wähler gehören nicht zu denjenigen, die sich
       freiwillig impfen lassen. Es sei denn, es lässt sich aus Berufsgründen
       nicht umgehen. Eins ist dennoch verwunderlich: Russische Fachleute sind
       hervorragend ausgebildet und [1][Sputnik V] weist kaum Nebenwirkungen auf.
       Trotz allem hat das Vakzin ein gewaltiges Imageproblem.
       
       Wie erklärt sich diese Zurückhaltung? 
       
       Die Bevölkerung hegt großes Misstrauen. Auch Putins Verhalten hat die
       Vorbehalte nicht ausräumen können. Wo und womit wurde der Präsident
       geimpft? Kann man ihm glauben, obwohl niemand zugegen war? Wer den
       Präsidenten treffen will, muss sich trotz angeblicher Impfung vorher noch
       zwei Wochen in Quarantäne begeben.
       
       Trotzdem erfreut sich Putin hoher Zustimmungswerte … 
       
       Die offizielle Zustimmung sagt nichts über das tatsächliche Vertrauen zu
       Putin aus. Unterstützung und Vertrauen sind zwei unterschiedliche Dinge.
       Menschen fürchten sich wieder, offen ihre Meinung zu sagen. Die Zustimmung
       gleicht eher einer Redefigur, einem formellen Automatismus, wie „Am Morgen
       geht die Sonne auf“. Der Politik wird indes nicht mehr getraut. Das erklärt
       auch, warum rund ums Impfen viele Verschwörungstheorien entstehen.
       
       Verschwörungstheorien sind in Russland ohnehin weit verbreitet. Beruht das
       auf der langen Tradition von Unfreiheit? Wer für sein Schicksal selbst
       nicht verantwortlich ist, gibt die Schuld gewöhnlich den Mächtigen … 
       
       Genau solche Verschwörungsszenarien treiben die Russen um. Was jedoch noch
       bedenklicher ist: Diese Szenarien finden Eingang in die staatliche Politik.
       Grundsätzlich reagiert ein Großteil der russischen Bevölkerung
       fatalistisch. Dahinter steckt der „Pofigism“ – die Haltung, dass alles egal
       ist. So schnallt sich die Hälfte der Autofahrer nicht an. Stattdessen hängt
       der Fahrer eine Ikone zum Schutz über den Rückspiegel.
       Schicksalsgläubigkeit ist eine wichtige Eigenschaft. Eine bekannte Ärztin
       aus dem öffentlichen Dienst kommentierte die Corona-Opfer neulich so: Wer
       krank wird, wird krank. Wer sterben muss, stirbt. So ist das eben.
       
       War der Staat trotz Sputnik-V-Vakzin nicht in der Lage, die Bevölkerung zu
       versorgen? 
       
       Im Januar und Februar herrschte auch in Russland ein Defizit vor, in der
       Provinz zum Teil bis heute. Jetzt hat [2][die Bevölkerung das Interesse
       verloren.]
       
       „Biopolitik“ hat nicht erst mit der Corona-Pandemie Einzug in Russland
       gehalten. Seit zehn Jahren wird die innenpolitische Agenda von
       konservativen Themen beherrscht, ob in der Familienpolitik, im Umgang mit
       Homosexualität und LGBTR-Rechten. Auch demographische Fragen sind davon
       betroffen. Haben auch Putins Appelle nichts erreichen können?
       
       Putin ist ein typischer KGBler, ein Geheimdienstler, er handelt in einem
       begrenzten, abgeschlossenen Raum. Er ist kein öffentlicher Politiker. Wer
       weiß schon etwas über seine Beziehungen zu Frauen oder zu den Kindern? Oder
       wie er die Freizeit verbringt? Er ist wie der Kreml, eine Festung. Ein
       halbwegs moderner Staat wird trotz Atombewaffnung wie im 16. Jahrhundert
       gelenkt. Verborgen hinter den Schiessscharten der Kremlmauer.
       
       Putin ist einsam. Folgt auf die geopolitische Vereinsamung wieder ein
       russischer Sonderstatus?
       
       Die Isolation ist nicht zu übersehen. Außer Hamas und Venezuela hat
       Russland keine Freunde mehr. So einsam wie jetzt, war Russland lange nicht.
       Der tadschikische Präsident Rachmonow war der einzige Gast bei den
       Siegesfeierlichkeiten des Weltkrieges in diesem Jahr. Putin ist
       verschlossen, autistisch und rachsüchtig. Er lässt sich von Ressentiments
       leiten und ist schnell beleidigt. Psychologen haben das behauptet, die
       seine Zeichnungen analysiert haben.
       
       Dass der Präsident schnell eingeschnappt ist, stellte vor Jahren schon
       Bundeskanzlerin Angela Merkel fest. 
       
       Putin überträgt diese Eigenschaften auch auf die Außenpolitik. Das geht mit
       ständigen „Spezialoperationen“ einher. Als bestünde der tiefere Sinn des
       Lebens im Betrügen der Umgebung. Ich glaube daher nicht, dass man dem Kreml
       vertrauen kann. Nicht mehr als Hamas. Auch wenn das Teil des diplomatischen
       Spiels ist.
       
       Droht dem Kreml wieder eine Phase des Stillstands – des sastoi – wie unter
       Leonid Breschnew in den 1970er und 80er Jahren? 
       
       Russland ist abhängig von Putin, er ist Gründer und Konservator des Systems
       und gleichzeitig dessen Geißel. Er wird den Kreml erst mit dem Tod
       verlassen.
       
       Früher trat der Staat auch als Modernisierer auf. Heute hingegen ist er ein
       „Antieuropäer“ und archaisch. Er beruht nach wie vor auf Naturressourcen.
       Gas, Öl und Rohstoffe waren im 20. Jahrhundert das Kerngeschäft. Im 21.
       Jahrhundert gilt der Mensch als Reichtum. Putin hat sich jedoch gegen den
       Weg der Modernisierung entschieden. Auch die aufholende Modernisierung ist
       aus dem Blick geraten. Die vierte technologische Revolution, die
       Digitalisierung, wurde schon verpasst. Auch die grüne Revolution wurde
       verschlafen.
       
       Wie reagiert die Elite darauf? 
       
       Es gibt keine eigenständige Elite in Russland. Sie ist direkt im Umfeld der
       Macht angesiedelt und erfüllt die Aufgabe des Dienstpersonals. Sie ist so
       etwas wie ein Steigbügelhalter der russischen Selbstherrschaft.
       
       Dennoch klammert sich Deutschland an Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit
       des Kremls. Vor allem links und rechts wird der Kreml verschont… 
       
       Das ist Teil deutscher Tradition. Moskau ist jedoch kein seriöser Partner
       mehr für Deutschland. Berlin muss daraus seine Lehren ziehen und sich von
       derartigen Befindlichkeiten freimachen. Russland ist wie einst die Türkei
       im 19. Jahrhundert, ein „kranker Mann“. Eine Achse Berlin-Moskau würde für
       Deutschland in eine Sackgasse führen.
       
       26 Jun 2021
       
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