# taz.de -- Modernistische Stadtim Fernen Osten
       
       > Als sich am Kaspischen Meer Uran fand, entstand für 300.000 Minenarbeiter
       > Aktau. Birgit Schlieps’künstlerische Recherche dazu liegt nun als
       > bemerkenswertes Buch vor
       
 (IMG) Bild: Seitenansicht aus Birgit Schlieps’ „Aktau“. „Und diese Stadt, das war eine großartige Idee. Nichts gab es hier am Anfang, es war eine einzige Wüste“ (Chefplaner Michail Iljitsch Lewin)
       
       Von Michael Freerix
       
       Aktau ist eine „Idealstadt“ in Kasachstan am Kaspischen Meer, dem größten
       See der Erde, und ein Ort der Widersprüche: mit Plattenbauarchitektur an
       schnurgeraden Straßen, an denen bunte Gärten angelegt sind, in denen das
       Grün immer wieder zugrunde geht, weil es an Süßwassermangel leidet, denn
       das Kaspische Meer ist salzig. Es entstand vor mehr als 5 Millionen Jahren,
       als große Salzwassermassen die Erde bedeckten. Auch der Grund und Boden um
       diesen See ist versalzen. Darüber hinaus ist die sie umgebende kasachische
       Steppe von extremen Temperaturschwankungen geprägt. Nie hatte ein Mensch
       die Idee, in ihr eine Stadt zu gründen. Menschen lebten in ihr nur als
       Nomaden, weil in ihr dauerhaftes Leben kaum gedeihen kann.
       
       Das änderte sich, als am Kaspischen Meer Uran gefunden wurde. Um dieses
       abzubauen, wurde Ende der 50er Jahre die Hafenstadt Schewtschenko
       gegründet. Abschnitt um Abschnitt entstanden Neubauviertel mit dem Ziel,
       300.000 Uranarbeiter anzusiedeln. Dies gelang nur teilweise. Mit der
       Unabhängigkeit von der UDSSR und dem Ende des Atomzeitalters stagnierte die
       Stadt, die 1991 in Aktau umbenannt wurde. Selbst das dortige Atomkraftwerk,
       mit dessen Energiegewinnung die aufwendige Meerwasserentsalzungsanlage
       betrieben wurde, musste stillgelegt werden. Allein staatliche Subventionen
       erhielten die Infrastruktur von Aktau. Erdöl und Gasvorkommen, die Ende der
       90er Jahre hier entdeckt wurden, brachten wieder einen Aufschwung. Heute
       leben beinahe 200.000 Menschen in dieser Hafenstadt.
       
       Die Bildkünstlerin Birgit Schlieps wurde durch Fotos im SZ Magazin auf
       Aktau aufmerksam. Schlieps studierte zunächst Architektur, bevor sie in die
       Kunst wechselte. In ihrer Kunst bedient sie sich allerlei Medien. In ihrem
       Buch „Aktau. Bildphänomene einer Plattenstadt in der kasachischen Steppe“,
       das soeben erschienen ist, sind es Fotografie und Text. Die Künstlerin ist
       fasziniert von politischen Ideen und wie sich diese in Architektur und
       Stadtplanung nieder geschlagen haben. Archetypisch findet sie dies in
       Aktau. Vergleichbares sieht sie etwa im indischen Chandigarh oder in
       Brasilia, doch ist Aktau weitaus vielschichtiger. Im Jahr 2000 flog
       Schlieps zum ersten Mal in diese Hafenstadt am Kaspischen Meer, die auf sie
       wie eine Geisterstadt wirkte, und seither immer wieder.
       
       Die in Aktau entdeckten „Bildphänomene“ bilden sich zum einen aus der
       gegenwärtigen Lebensrealität vor dem Hintergrund einer sich ändernden
       Gesellschaft. Aus der sozialistischen „Idealstadt“ ist mittlerweile eine
       durchprivatisierte, vom Ölboom angetriebene Wüstenmetropole geworden.
       Andererseits ist es den Stadtplanern nie ganz gelungen, die Wüste aus dem
       Stadtbild zu verdrängen. Mit hoher sinnlichen und fachspezifischen
       Intelligenz beschreibt Schlieps „das Lückenhafte, das Zerstückelte, das
       Fleckige, das leopardfellige Flechtwerk“ dieses Ortes. Aktau wirkt auf sie,
       als wäre die Stadt den fantastischen Gemälden des Surrealisten Giorgio de
       Chirico entstiegen. Geprägt von Wasserlosigkeit und extremen
       Temperaturunterschieden entstehen an diesem Ort faszinierende
       Lichtsituationen bis hin zu Luftspiegelungen, die geeignet sind,
       „imaginative Prozesse und das spiegelbildliche Erkennen des eigenen
       Körpers“ hervorzubringen. Diese werden ergänzt um die Bilder, die der
       politische Umschwung in der Architektur des Stadtbildes hat entstehen
       lassen. Neben den sozialistisch gedachten Einrichtungen der
       Erbauergeneration haben sich privatwirtschaftliche Konsumlandschaften und
       ihre neuen Bedürfniswelten etabliert. Dies hat die Menschen verändert. Aus
       Nomaden waren in den 60er Jahren Uranarbeiter geworden, die in
       Plattenbauten eine neue Heimstatt fanden. Nun leben diese neben den
       Neureichen, die vom Ölboom profitieren. Die Neureichen stellen ihre
       protzigen Villenbauten wie selbstverständlich neben die sozialistischen
       Plattenbauten: In Aktau trifft die sozialistische Architektur der
       Vergangenheit auf einen individualistisch-architektonischer Irrwitz der
       Gegenwart, der seinesgleichen sucht, und bringt „Bildphänomene“ hervor, die
       so wohl nirgendwo auf der Welt zu finden sind.
       
       Schlieps arbeitet in ihrem Buch an etwas gänzlich Neuem, Innovativem: Ihr
       Blickwinkel ist von der Architektur her gesetzt, doch formuliert sie in der
       recht neuartigen Kultur der „wissenschaftlich-künstlerischen“ Forschung
       neue Maßstäbe. Fotografie verbindet sie in einem Wechselspiel mit Texten
       unterschiedlicher Couleur zu einer Arbeit, die einen halluzinatorischen
       Zustand zwischen „Nicht mehr – noch nicht“ und einem „Sowohl-als-auch“
       beschreibt. Für sie ist die Stadt Aktau ein Symbolort der Moderne „zwischen
       Schlafen und Wachen“, der von seiner Essenz her mehrdeutig ist, zwischen
       Vergangenem und Gegenwärtigem steht und „das Phantastische wie das
       Sichtbare“ begreifbar macht. Schlieps ist in ihrem Buch als Künstlerin
       sowohl Beobachterin, strukturelle Analystin, Betrachterin als auch soziale
       Protokollantin und gar sinnliche Abenteuerin. Sie entblättert eine
       „Vielschichtigkeit sich ereignender Bildphänomene, bei dem die Fotografie
       als Instrument der Bildherstellung und der Beschreibung“ dient, um „zum
       Bestandteil einer Analyse“ zu werden. Das Theoretische wird in diesem Buch
       dem untersuchten Gegenstand nicht übergestülpt, sondern aus diesem heraus
       erarbeitet. Aktau wird aufgefächert als ein Ort der „Trancemoderne“.
       
       Birgit Schlieps: „Aktau, Bildphänomene einer Plattenbaustadt in der
       kasachischen Steppe“. Materialverlag HFBK, Hamburg 2021, 270 S., 35 Euro
       
       22 Jul 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Freerix
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA