# taz.de -- Problematische Corona-Kommunikation: Die dritte Welle war lange absehbar
       
       > Die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt weiter stark an. Das hat sich
       > seit Wochen abgezeichnet – doch wichtige Zahlen nennt die Politik erst
       > jetzt.
       
 (IMG) Bild: Warnten erst vor dem exponentiellen Anstieg, als es zu spät war: Lothar Wieler und Jens Spahn
       
       Die Zahl der Corona-Neuinfektionen ist auch am Dienstag weiter stark
       gestiegen: Der 7-Tage-Mittelwert liegt mit über 10.000 Neuinfektionen pro
       Tag 23 Prozent höher als eine Woche zuvor, entsprechend ist auch die
       7-Tage-Inzidenz auf 84 gestiegen.
       
       Ein zentraler Grund dafür ist das exponentielle Wachstum der
       Coronamutationen. Am Freitag warnte das Robert Koch-Institut (RKI), dass
       die Zahl der Infektionen mit B.1.1.7, der Virusvariante aus Großbritannien,
       bereits seit Januar exponentiell ansteigt. Die Zahl der Fälle hat sich alle
       zwölf Tage verdoppelt. Der Lockdown hat also nicht gereicht, um B.1.1.7 zu
       stoppen. Im Gegenteil: Die Variante hat sich zu einer bedrohlichen Welle
       aufgebaut.
       
       Diese Warnung hätte man allerdings schon vor einem Monat aussprechen können
       – und müssen. Damals ging die Gesamtzahl der Corona-Infektionen in
       Deutschland noch zurück – doch diese Entwicklung vermittelte schon damals
       ein verzerrtes Bild. Und das wurde durch die Mitteilungen des
       Gesundheitsministeriums und des RKI bestärkt. Am 17. Februar
       veröffentlichte das RKI einen Bericht zu den Coronavarianten ([1][hier als
       pdf]). Doch die entscheidende Zahl wurde darin nicht genannt: Die absolute
       Zahl der Infektionen mit B.1.1.7. Sie stieg schon damals exponentiell an,
       um bis zu 80 Prozent pro Woche. Doch das erfuhr nur, wer selbst rechnete.
       
       Im Mittelpunkt der Pressekonferenzen und Berichte von RKI und Ministerium
       stand stattdessen stets eine relative Zahl: Der Anteil, den B.1.1.7 an
       allen Infektionen hat. Mitte Februar erklärte CDU-Minister Jens Spahn, die
       Variante habe einen Anteil von 22 Prozent – und kommentierte: „Wir müssen
       damit rechnen, dass die Variante bald auch bei uns die dominierende werden
       könnte.“ Ähnlich äußerte sich RKI-Präsident Lothar Wieler [2][noch Anfang
       März]: „Es ist absehbar, dass B.1.1.7 bald die vorherrschende Variante in
       Deutschland sein wird.“
       
       Die Bevölkerung hat also immer wieder erfahren, dass B.1.1.7 stärker ist
       als die anderen Varianten. Doch die entscheidenden Warnungen fehlten: Sie
       ist auch stärker als der Lockdown. Sie hat bereits im Februar eine große
       Wucht aufgebaut; die absolute Zahl der Infektionen verdoppelt sich
       mindestens alle zwei Wochen. Und sobald B.1.1.7 sich durchgesetzt hat, wird
       sich auch die Gesamtzahl der Corona-Infektionen alle zwei Wochen
       verdoppeln. All das war schon Mitte Februar aus den absoluten Zahlen
       ablesbar.
       
       Auf die Frage, warum Gesundheitsminister Spahn nicht schon im Februar vor
       dem exponentiellen Anstieg gewarnt hat, weicht das Ministerium aus: Der
       Minister informiere „regelmäßig über die aktuelle Coronalage, auch
       ausführlich zum Thema Mutationen“. Dabei wäre es für die Bundesregierung
       ein Leichtes gewesen, jede Woche die absolute Zahl der Neuinfektionen mit
       B.1.1.7 zu verkünden, denn sie lässt sich leicht berechnen: Aus der
       Gesamtzahl der Corona-Infektionen und dem Anteil von B.1.1.7. Dieser Anteil
       wird unter anderem durch eine valide Stichprobe ermittelt: Jede Woche
       untersucht ein Verbund der großen Labore Proben zusätzlich auf die
       Virusmutation. Es sind jede Woche Tausende von Proben, die zufällig gezogen
       werden.
       
       Doch erst jetzt, Mitte März, nutzte das Robert-Koch-Institut diese Daten,
       um die entscheidende Warnung auszusprechen: „Die so ermittelten
       wöchentlichen Fallzahlen von B.1.1.7 zeigen eine sehr gleichmäßige
       Wachstumsrate und haben sich in der Zeit von Kalenderwoche 2 bis
       Kalenderwoche 9 etwa alle zwölf Tage verdoppelt.“ Schon seit Mitte Januar
       zeichnet sich also ab, dass die Infektionen mit B.1.1.7 exponentiell
       wachsen. Im Schnitt haben sie jede Woche um 46 Prozent zugenommen.
       
       Mitte Februar hätte sich die neue Welle der Mutationen, die damals noch vom
       Rückgang der Infektionen durch das ursprüngliche Virus überdeckt wurde,
       durch verschärfte Maßnahmen noch stoppen lassen. Doch weil die
       Bundesregierung es versäumt hat, die entscheidenden Daten zu kommunizieren,
       fehlte die wichtigste Grundlage für die politischen Beschlüsse. Stattdessen
       wurden zwei Wochen später [3][Lockerungen beschlossen], was die Dynamik
       jetzt weiter steigert. Die dritte Welle rollt gerade mit Wucht an.
       
       Zurückgenommen werden sollen Lockerungen dem jüngsten Bund-Länder-Beschluss
       zufolge aber erst, wenn die regionale Inzidenz den Wert von 100
       überschreitet. Dem Verband der Intensivmediziner (DIVI) langt das nicht:
       Deren wissenschaftlicher Leiter Christian Karagiannidis forderte die
       Politik am Montag auf, sofort in den Lockdown zurückzukehren.
       
       16 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/DESH/Bericht_VOC_2021-02-17.pdf?__blob=publicationFile
 (DIR) [2] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/121772/RKI-Chef-Wird-noch-schwieriger-das-Virus-im-Zaum-zu-halten
 (DIR) [3] /Coronabeschluesse-von-Bund-und-Laendern/!5755995
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Malte Heynen
       
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