# taz.de -- Kaum vermummte Absichten
       
       > In der Schweiz wird am Sonntag über das Verbot des Ganzkörperschleiers
       > abgestimmt, die Initiator:innen könnten gewinnen. Für sie ist die
       > Volksabstimmung ein Vehikel, um Stimmung gegen Minderheiten zu machen
       
 (IMG) Bild: Die Frau im Schleier, dargestellt als Bedrohung: Die Initiative setzt auf Ressentiments
       
       Aus Basel Anina Ritscher
       
       Seit einigen Wochen hängt es an jedem Bahnhof, an jeder Straßenecke und in
       jeder Unterführung der Schweiz: ein Plakat mit einer bis auf die Augen
       verschleierten Frau, auf dem steht: „Extremismus stoppen! Verhüllungsverbot
       JA.“ Die Frau zieht ihre Augenbrauen zusammen. Zornig sieht sie aus.
       Bedrohlich.
       
       Laut einer Studie leben in der Schweiz gerade mal 30 bis 40 Frauen, die
       einen Nikab, also einen Ganzkörperschleier wie den auf dem Plakat, tragen.
       Trotzdem spricht gerade das ganze Land über sie. Eine Volksinitiative, über
       die am kommenden Sonntag abgestimmt wird, will es verbieten, das Gesicht in
       der Öffentlichkeit zu verdecken. Die Initiative könnte erfolgreich sein: In
       den neuesten Umfragen wollen 49 Prozent dafür stimmen, 47 Prozent dagegen.
       
       Die Initiative richtet sich zwar auch an „vermummte Chaoten“, wie es auf
       der Website der Initiant:innen heiß, dennoch dreht sich die Debatte
       kurz vor dem Abstimmungssonntag hauptsächlich um den Islam in der Schweiz.
       
       Neben der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der
       evangelisch-nationalkonservativen Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU)
       werben einige unabhängige Personen für die Initiative. Etwa die Vorsitzende
       des Forums für einen fortschrittlichen Islam, Saïda Keller-Messahli. Ihre
       Begründung: Die Initiative trage zur Befreiung von muslimischen Frauen
       bei.
       
       Umgekehrt finden die Gegner:innen der Vorlage, dass ein Verbot des
       Ganzkörperschleiers nicht zu weniger Unterdrückung von Frauen führe, weder
       hier noch in anderen Ländern. Die Initiative sei reine Symbolpolitik.
       Außerdem könne ein Verbot die Radikalisierung fördern, warnt etwa die
       Islamwissenschaftlerin Agnès de Féo.
       
       Der Religionsforscher Andreas Tunger-Zanetti führte an der Universität
       Luzern eine Studie zum Nikab in der Schweiz und zu der Debatte darüber
       durch. Er hält fest: „Ein Mann, der Druck ausübt, ist, soweit erkennbar,
       nie da.“ Stattdessen kämen die meisten Frauen aus eher unreligiösen
       Familien, die den Islam dann in ihren Zwanzigern für sich entdeckt hätten.
       Viele würden den Nikab später wieder ablegen, wie Studien aus anderen
       westeuropäischen Ländern zeigten.
       
       Zwar gibt es einzelne Querschläger:innen auf beiden Seiten der Debatte,
       doch außer der rechtspopulistischen SVP und der EDU stellen sich alle
       großen Parteien gegen die Initiative. Auch Nichtregierungsorganisationen
       wie Amnesty International und Terres des Femmes empfehlen ein Nein, genauso
       wie zahlreiche feministische und muslimische Organisationen.
       
       Bundesrat und Parlament empfehlen ebenfalls ein Nein zu der Vorlage. Der
       Bundesrat hat einen indirekten Gegenvorschlag beschlossen, der automatisch
       in Kraft tritt, wenn die Initiative abgelehnt wird. Er beinhaltet die
       Pflicht, das Gesicht im Kontakt mit Behörden zu enthüllen. Er ermöglicht es
       dem Bund zudem, Organisationen zu unterstützen, die sich für die Rechte von
       Frauen einsetzen.
       
       Hinter der Volksinitiative „Ja zum Verhüllungsverbot“ steht das „Egerkinger
       Komitee“, ein Verein, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die angebliche
       „Islamisierung der Schweiz“ zu stoppen, wie es in den Statuten heißt. Der
       Vorstand besteht aus sechs Männern, alle sind Politiker der SVP oder der
       EDU.
       
       Initiativen zum Thema Migration aus dem rechtspopulistischen Lager haben in
       der Schweiz Tradition. Bereits 1970 stimmte die Bevölkerung über die
       sogenannte Überfremdungsinitiative ab, die den Anteil von ausländischen
       Staatsbürger:innen im Land auf 10 Prozent begrenzen wollte. Sie wurde
       abgelehnt, doch der politische Diskurs hat sich damit nach rechts
       verschoben.
       
       In den 70er und 80er Jahren folgten mehrere Initiativen, die den Anteil und
       die Rechte von Menschen ohne Schweizer Pass einschränken wollten. Sie
       richteten sich damals hauptsächlich an Saisonarbeitende aus Italien und
       kamen von rechtspopulistischen Parteien wie der Nationalen Aktion gegen die
       Überfremdung von Volk und Heimat oder der Autopartei. Diese Parteien waren
       im Parlament nur mit wenigen Sitzen vertreten. Aufgrund des
       direktdemokratischen Systems konnten sie ihre Anliegen aber
       aufmerksamkeitswirksam verbreiten.
       
       In den 90er Jahren besetzte vermehrt die SVP insbesondere unter dem
       Einfluss des Zürcher Unternehmers Christoph Blocher das Thema Migration.
       Das Thema, das die als „Bauernpartei“ bekannte SVP zuvor kaum
       interessierte, verhalf ihr schließlich zum Aufstieg zur meistgewählten
       Partei der Schweiz. 1993 lancierte die SVP ihre erste Initiative: die
       „Initiative gegen illegale Einwanderung“, die es illegalisierten
       Eingewanderten verbieten wollte, Asyl zu beantragen. Sie wurde abgelehnt.
       
       2007 brachte die Initiative zur „Ausschaffung krimineller Ausländer“ der
       SVP den Durchbruch. Sie verlangte, dass auch kleine Delikte dafür
       ausreichen solten, dass Menschen mit Aufenthaltserlaubnis, aber ohne
       Schweizer Pass aus dem Land ausgewiesen werden können.
       
       Das Plakat der Kampagne zeigte ein paar friedliche weiße Schafe, die auf
       einem rot-weißen Schweizerkreuz stehen, als würden sie dort grasen. Ein
       schwarzes Schaf wird von einem der weißen Schafe mit der Nationalflagge
       weggekickt. Die Kampagnen wurden damals wie heute von dem Grafikbüro „Goal
       AG“ unter der Leitung von Alexander Segert entworfen. Segert hat auch
       Kampagnenmaterial für die AfD entwickelt.
       
       Der UNO-Berichterstatter für Rassismus warf der SVP vor, mit dem
       „Schäfchenplakat“ rassistische Ressentiments zu bedienen. Die Initiative
       wurde trotzdem angenommen, und die SVP ging als große Siegerin aus der im
       selben Jahr stattfindenden Parlamentswahl hervor.
       
       Zwar wurde die Initiative von der Regierung später nicht im Sinne der
       Initiant:innen umgesetzt, weil das Gesetz nun eine Härtefallklausel
       enthält und straffällige Menschen ohne Schweizer Pass somit nicht
       automatisch ausgewiesen werden können. Doch das Plakat stimmte auf die
       SVP-Politik und die der Egerkinger Initiativen für die kommenden Jahre ein.
       
       „Die Schweizerische Volkspartei hat eine Vorreiterrolle unter den
       rechtspopulistischen Parteien in Europa inne“, sagt der Historiker für
       Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, Damir Skenderovic. Das hänge
       einerseits mit der direkten Demokratie zusammen, die es auch
       Minderheitenmeinungen erlaubt, eine große Öffentlichkeit zu erlangen.
       Andererseits habe die Schweiz keine Erfahrung mit einem faschistischen
       Regime gemacht, was die Berührungsängste vor Schlagworten wie
       „Überfremdung“ schon in den 70ern schmälerte.
       
       Wichtig sei zudem die schweizerische Konkordanzdemokratie: Die Regierung
       besteht aus Vertreter:innen aller großer Parteien; die sieben Sitze im
       Bundesrat werden nach einem bestimmten Verteilschlüssel an die Parteien
       vergeben. „Es gab in der Politik nie wirklich eine Diskussion darüber, ob
       man mit der SVP kooperieren wolle, weil sie schon lange Teil der
       Regierungssystems ist“, sagt Skenderovic.
       
       2009 hatte die SVP einen ihrer bisher größten Erfolge: Die sogenannte
       „Minarettinitiative“ wurde von der Bevölkerung angenommen. Seither ist es
       in der Schweiz verfassungswidrig, Minarette zu bauen. Es gibt davon im
       ganzen Land sowieso nur vier. Die aktuelle Debatte über den Nikab erinnert
       an die Minarettdebatte von damals.
       
       Der Religionswissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti untersuchte auch die
       Diskussionen über die aktuelle Initiative. Er sagt: „Die Debatte um den
       Islam wird heute von vielen Akteur:innen informierter geführt als noch
       zur Zeit der Minarettinitiative.“ Trotzdem sei das Thema durch die
       binäre Wahl zwischen Ja und Nein künstlich zugespitzt. Dies werde dem
       komplexen Thema „Frauenrechte im Islam“ nicht gerecht.
       
       „Es geht in der aktuellen Debatte nicht um Frauen, sondern um eine
       Unsicherheit gegenüber Religion im Allgemeinen und gegenüber den hier wenig
       bekannten religiösen Ausdrucksformen im Speziellen“, sagt Tunger-Zanetti.
       Auffällig sei auch, dass die Nikabträgerinnen selbst in den Medien kaum zu
       Wort kamen.
       
       „Es ging in den SVP-Initiativen seit den 90er Jahren immer darum, ein
       Bedrohungsszenario zu skizzieren. Dabei sind es variierende Gruppen, die
       als Bedrohung wahrgenommen werden: mal migrantische Menschen, mal
       Asylsuchende – und jetzt eben Muslim:innen. Doch die Rhetorik funktioniert
       immer gleich“, sagt der Historiker Skenderovic.
       
       Nach 2016 schien sich das Blatt zu wenden, die SVP verlor allmählich an
       Stimmen und konnte keine größeren Abstimmungen mehr gewinnen. Zuletzt wurde
       die Initiative „Gegen Maßlose Einwanderung“ im Herbst 2020 klar abgelehnt.
       Dieser Trend könnte sich an diesem Sonntag umkehren.
       
       6 Mar 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anina Ritscher
       
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