# taz.de -- Die Wahrheit: Wattestäbchen des Grauens
       
       > Warten ist die Hauptbeschäftigung aller dieser Tage. Wer die
       > Herausforderung sucht, sollte sich um einen Termin in einem Seniorenheim
       > bemühen.
       
       Das fehlt mir so!“, kräht mein Kollege, „der Club, die Leute, alles, selbst
       das Anstehen, der erste Erfolg der Nacht, wenn man vom Türsteher akzeptiert
       ist …“
       
       Nun gehört er wie ich altersmäßig schon länger nicht mehr zum klassischen
       Clubpublikum, was mich zu der Frage führt, wie er es jemals ins Berghain
       geschafft haben will. Auch masochistische Neigungen sind mir an ihm bisher
       nicht aufgefallen, doch wer kennt seine Kollegen schon bis in die kleinsten
       Ecken ihrer Unterhosen. Aber bitte! Ich habe einen Geheimtipp, die Lösung
       für seine Sehnsüchte!
       
       Die aktuell härteste Tür der Stadt befindet sich zentral in Berlin gelegen,
       im Pflegeheim meiner Mutter. In aller Herrgottsfrühe stehe ich dort
       mehrmals die Woche mit anderen Menschen Einlass begehrend an. Dieser wird
       aber nur mit frisch negativ beschiedenem Coronatest gewährt, welcher seit
       Kurzem vom Chef persönlich durchgeführt wird. Das ist sehr dankenswert, da
       Service des Hauses, regelmäßig und kostenlos.
       
       Allerdings ist „il direttore“ dabei alles andere als zimperlich. Sein
       persönlicher Stil des Rachenabstrichs hat mich ein ganz neues Verhältnis zu
       meiner Speiseröhre finden lassen und mir Geräusche entlockt, die an eine
       Herde würgender Elefanten denken lässt. Schon manches Mal war ich, wenn die
       Nase dran war, auch sicher, dass das Wattestäbchen des Grauens mir zum Auge
       wieder herauskommen wird. Wahrscheinlich hat kein Mann mich so oft weinen
       sehen wie dieser fleißige Mitarbeiter der Vereinigung evangelischer
       Seniorenstifte.
       
       ## Warteschlange 2.0
       
       Nach Vollzug heißt es wieder draußen warten, zusammen mit den anderen
       Delinquenten – diesmal auf das Ergebnis. Warteschlange 2.0. In mehr oder
       minder gebührendem Abstand unterhält man sich, um die Zeit totzuschlagen.
       Dabei kommen mir Geschichten zu Ohren, auf die ich in den allermeisten
       Fällen gern verzichtet hätte.
       
       Die medizinischen Einzelheiten zu Ende gehenden Lebens stecke ich tapfer
       weg, da sie unabänderlich scheinen. Beispiele seelischer Grausamkeit und
       menschlicher Abgründe aus den Schößen der Familien machen mir mehr zu
       schaffen und wecken meine Fluchtbereitschaft. Sehnsüchtig blicke ich zur
       verbotenen Raucherecke hinüber, wo zwar der kalte Rauch steht, aber
       immerhin auch Stühle. Allerdings ist es unklug, seine Position in der
       Schlange zu lange zu verlassen, um den Aufruf nicht noch zu verpassen.
       
       Endlich in Besitz des richtigen Testergebnisses, empfängt mich drinnen eine
       andere Welt. Es gibt interessante Charaktere auf den Fluren, wenn auch in
       reiferer Ausführung: liebeshungrige Jungs, narkoleptische Feen, hartnäckige
       Dramaqueens. Es gibt Gerüche unbestimmter Herkunft und ganz gewiss eine
       Menge versteckter Drogen. Mein entzügiger Kollege könnte mich demnächst
       beim Besuchsdienst vertreten.
       
       Denn die Erleichterung, irgendwann diese Tür genommen zu haben, ist mit
       der, in den begehrten Club vorgedrungen zu sein, durchaus zu vergleichen.
       
       19 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Stöhring
       
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