# taz.de -- Atlantik-Insel Porto Santo und Corona: Triumph des Mittelmaßes
       
       > Porto Santo ist ein mediokres Inselchen im Atlantik. „Sauber, sicher,
       > stressfrei“ sind die neuen coronabedingten Verkaufsargumente.
       
 (IMG) Bild: Blick auf die Hauptstadt von Porto Santo, Cidade Vila Baleira
       
       Beim Frühstück sind Speck und Spiegeleier kalt. Im Hotel ist nur einer der
       drei Aufzüge in Betrieb. In der Inselmitte klaffen Landebahn und Golfplatz
       wie offene Wunden, im Sport- und Fährhafen liegt der Charme unter Beton und
       Öllagern begraben. Ein relevantes Kulturerbe: Fehlanzeige. Riesiges Plus
       ist der kilometerlange Sandstrand an der Südküste. Unterm Strich bleibt:
       Porto Santo, die kleine Nachbarinsel von Madeira, dümpelt im Mittelmaß
       daher und geht im Strom der übermächtigen Reiseziele unter.
       
       Eigentlich. Doch mit der Pandemie, den wechselnden Ausweisungen von
       Risikogebieten und behördlich gesteuerten Wellenbewegungen des
       Reisendürfens sind alte Reisegewohnheiten verschwunden, hat sich die Sicht
       auf die Dinge verändert. Das wiederum rückt eine Nische wie Porto Santo in
       den Fokus.
       
       Das Eiland, 42,5 Quadratkilometer klein und 5.000 Einwohner stark, gilt als
       relativ sicheres Coronarefugium: nur 88 Infektionen seit März vergangenen
       Jahres, darunter neun aktive bei Redaktionsschluss, und kein einziger
       Sterbefall. Die Einreise führt über Madeira; auch in der Nebensaison
       verkehrt die Fähre täglich. Allerdings ist der Archipel seit 9. Januar als
       Risikogebiet ausgewiesen worden, was sich rasch wieder ändern kann – denn
       lange Zeit war er es nicht.
       
       Die Urlaube der Zukunft könnten sich vorerst nach dem Ausschlussverfahren
       gestalten. Den Ausschlag geben nicht mehr persönliche Vorlieben, Träume,
       magazin- und instagramgesteuerte Inspirationen. Oder Hochglanzversprechen
       aus den Katalogen von Veranstaltern. Entscheidend für die Planungen ist das
       Koordinatensystem aus Infektionsgeschehen, Fortschritten bei den Impfungen,
       aktuellen Einreisetücken und Bestimmungen für die Rückkehr. Langflugreisen
       scheinen zunächst in weite Ferne gerückt zu sein. Nähere Destinationen wie
       Spanien haben sich durch flächendeckende Maskenpflicht im Freien und die
       Androhung von Bußgeldern in Höhe von Tausenden Euro für jene, die nicht mit
       einem selbst finanzierten PCR-Test einjetten, ins Abseits katapultiert.
       
       ## Wüste im Atlantik
       
       Wer dort ankommt, sieht sich mitunter von einem Spalier aus
       Sicherheitskräften empfangen, die alles andere als Urlaubsfeeling
       verbreiten. Die Flugankunft auf Madeira hingegen setzt Maßstäbe der
       Willkommenskultur und Gästebindung. Zur Begrüßung gibt’s eine Banane, ein
       Wasserfläschchen und einen kostenlosen PCR-Test, dessen Ergebnis
       verlässlich nach spätestens zwölf Stunden vorliegt – bis dahin ist eine
       Selbstisolation in der gebuchten Unterkunft vorgeschrieben, dann kann es
       losgehen.
       
       Die Fähre ab Madeiras Hauptstadt Funchal nach Porto Santo ist zweieinhalb
       Stunden unterwegs und geht morgens um acht Uhr: mit Körpertemperaturmessung
       vor der Abfahrt und Maskenpflicht an Bord. Nach der Ankunft kann man den
       Mund-Nasen-Schutz abstreifen; entgegen anderslautender Informationen war er
       bei den aktuellen Recherchen in der Öffentlichkeit nicht obligatorisch.
       
       Porto Santo höckert sich mit mehreren Hügeln auf. Wer das Eiland für eine
       Kleinausgabe des sattgrünen Madeira hält, liegt falsch. „Madeira ist der
       Garten im Atlantik, wir sind genau das Gegenteil: eine Wüste im Atlantik“,
       stellt Nuno Santos Lã klar, der Besucher bei Jeeptouren über die Insel
       schaukelt. Damit spielt der 39-Jährige auf die Wasserknappheit an, die
       durch die Meerwasserentsalzung kostspielig aufgefangen wird und den
       Golfplatz umso deplatzierter wirken lässt. „Da geht unser recyceltes
       Toilettenwasser hin“, sagt er und lächelt, was Spielraum für
       Interpretationen lässt.
       
       „Das Einzige, was wir exportieren, ist der getrennte Müll nach Madeira“,
       nimmt Nuno kein Blatt vor den Mund und beschönigt nichts an der glanzfreien
       Gebrauchsarchitektur in und um die Hauptstadt Cidade Vila Baleira: „Unsere
       Insel ist eben modern.“ Dann schwenkt er zu den Vorzügen über: „Wir haben
       hier null Prozent Kriminalität. Es gibt keine Ampeln, keinen Stress. Und in
       einer Viertelstunde bist du im Auto in jedem Winkel der Insel, ohne Karte,
       ohne GPS.“ Ergänzt sei: ohne Gedränge, sofern man den Ferienmonat August
       ausklammert, der gewöhnlich viele Nachbarinsulaner aus Madeira anlockt –
       denn die haben keine Naturstrände.
       
       ## Kolumbus war auch hier
       
       Obgleich er Konzerte und Kino vermisst, spricht Nuno ein ums andere Mal von
       „Lebensqualität“ und unterstreicht: „Porto Santo ist sauber, sicher und
       ruhig.“ Was die Frage aufwirft, ob derlei Merkmale bei der Wahl der
       Urlaubsdestination künftig den Ausschlag geben. Muss es immer spektakulär
       zugehen? Muss jeder Ort gleich den Atem verschlagen und Weltkulturerbe
       sein? Ist vielleicht der Durchschnitt das neue Nonplusultra, wo es auch mal
       bescheidene Mikroziele sein dürfen, die bei Ausflügen zufriedenstellen?
       
       Nuno bringt uns in den Botanischen Garten Quinta das Palmeiras, wo Besucher
       das ambitioniert angelegte Grün, den Teich und die Vögel erst mit dem
       Wissen um die Wasserarmut auf der Insel zu schätzen lernen. Er zeigt das,
       was er versteckt hinter der Landebahn „die kleinste Wüste der Welt“ nennt,
       und fährt hinauf zu zwei Aussichtspunkten. Station im Osten ist eine Farm,
       die Lomelino Velosa, 52, als volkskundlich-museales Kulturerbe der Familie
       in vierter Generation bewahrt.
       
       „Museu Casa da Serra“ heißt der kleine Komplex mit wiederhergestelltem
       Waschplatz, Brunnen und Küche, wo es nach frischem Feuer riecht. Er sei
       eine „im Aussterben befindliche Spezies“, befindet Lomelino, denn er sei
       auf Porto Santo geboren. Heute kommt der Inselnachwuchs gewöhnlich im
       Spital von Madeira zur Welt. „Da wird der komplette Aufenthalt für die
       hochschwangeren Frauen arrangiert“, sagt anderntags Sofia Santos, 37, die
       für Tourismus, Umwelt und Kultur zuständige Inselrätin. Ihr Urgroßvater
       besaß das erste Auto auf Porto Santo und kutschierte Touristen herum,
       erzählt sie.
       
       Santos’ Chef heißt Idalino Vasconcelos. Er ist der Präsident der Insel.
       „Früher war ich Reiseleiter für Neckermann, aber dafür bin ich jetzt zu
       alt“, stellt sich der 60-Jährige in kauzig-holprigem Deutsch vor und lacht.
       Idalino lässt keinen Zweifel daran, dass er sich auf die Vermarktung Porto
       Santos versteht, und führt den singulären Charakter ins Feld: „Wir liegen
       an der Peripherie, sind aber weder Portugal noch Madeira. Das Klima ist
       ganzjährig mild, die Bewohner sind entspannt, es gibt keine giftigen Tiere.
       Und Kolumbus war auch hier.“ Er erinnert ans Zeitalter der Entdeckungen,
       als portugiesische Seefahrer die unbewohnte Insel 1419 für ihr Heimatland
       in Besitz nahmen und Christoph Kolumbus später einige Zeit hier verbrachte,
       da er die Tochter des Inselgouverneurs ehelichte.
       
       Idalino verliert sich dabei nicht in Schwelgereien und Eigenlobhymnen, auch
       nicht bei engagierten Zukunftsplanspielen um das C02-freie Porto Santo und
       die Ablösung überholter Transportmittel durch E-Busse im Laufe des Jahres –
       denn da schwingt etwas anderes mit. Es ist die tiefe, ehrliche Zuneigung zu
       seiner Insel. „Ein Stück Himmel“ sei das hier, schwärmt Idalino vom Grund
       der Seele weg. Jeden Morgen gehe er zum Beach Walking an den Strand,
       manchmal schwimme er eine Runde. „Dann fühle ich mich wie 18“, sagt er.
       
       Zum Abschied überreicht er ein Postkartenset mit alten
       Schwarz-Weiß-Aufnahmen hinterwäldlerischer Inselszenen. Männer, die barfuß
       Weinfässer durch den Sand zum Ufer rollen. Ein Vater mit zwei Kindern auf
       Eseln. Ein Mann, der eine Dame mit Hütchen und schwerem Kleid auf den
       Schultern durchs Wasser zu einem Ausflugskahn zurückträgt. Verbindendes
       Element zum Hier und Heute ist die karge, fast menschenfeindliche
       Landschaft. Die Böden sind sandig und nährstoffarm, es fällt wenig
       Niederschlag.
       
       Erschließt sich Idalinos „Stück Himmel“ auch Besuchern? Da schadet es
       nicht, dem Firmament ein Stück näherzurücken: auf dem Höhenwanderweg auf
       den konisch aufsteigenden Pico Castelo, den man oft für sich allein hat.
       Oben, auf einstigen Getreideterrassen des 437 Meter hohen Vulkanschlots,
       wurzeln angepflanzte Bäume und Blumen. Der warme Wind streicht durch
       Kiefern, Steineichen, Libanon-Zedern. Ernüchternd und komplett indes
       schiebt sich die drei Kilometer lange Start-und-Landebahn ins Sichtfeld,
       die die Insel zerschneidet und sich durch Nutzung der Streitkräfte erklärt.
       Militärische Prägung trägt auch der höchste Inselberg Pico do Facho mit
       seiner Radarstation.
       
       Das Kolumbus-Haus in Cidade Vila Baleira ist im einstigen Sitz des
       Inselgouverneurs untergebracht, Broschüren führen es als „kulturell
       wichtigste Sehenswürdigkeit“ der Insel auf – was falsche Erwartungen weckt.
       Es gibt weder griffige Exponate zu Kolumbus noch einen Gegenstand aus
       seinem Besitz; die ausgestellten Schatzfunde von einem vor Jahrhunderten
       gesunkenen Schiff der Niederländer gehen am Thema vorbei. Und der
       benachbarten Kirche Nossa Senhora da Piedade fehlt es an Pracht und
       Reichtum, da einst Piraten zu Plünderungen anrückten.
       
       Dagegen ist der Sandstrand, den Idalino so liebt, makellos, traumhaft.
       Darüber liegt die Beachbar „Pé na Água“ mit Strohpilzen, Liegen, weiten
       Terrassenflächen. Eine perfekte Location, so wie am Abend hoch über dem
       Städtchen das Restaurant „Panorama“. In der Tiefe breitet sich das
       Lichtermeer bis zum dunklen Atlantik aus, der gekochte Oktopus zergeht auf
       der Zunge. Eine gute Gelegenheit, über das Ziel Porto Santo zu sinnieren.
       
       Sauber: stimmt. Sicher, auch unter Corona-Aspekten: stimmt. Stressfrei und
       weit weg vom Rest der Welt: stimmt. Insgesamt ist die Insel medioker, aber:
       Kann Mittelmaß, kann der Mangel an Sehenswürdigkeiten und Sensationen nicht
       ein ausschlaggebender Vorteil sein? Ist Bescheiden- und Schlichtheit bei
       der Zielwahl durch Corona das neue Maß der Dinge geworden? Porto Santo,
       „ein Stück Himmel“ – so weit wie Präsident Idalino mag man nicht gehen,
       dazu fehlt Auswärtigen einfach das Insel-Gen. Doch die innere Ruhe und
       Friedensstimmung, die man spürt, und die gesunde Luft, die nach Salz
       schmeckt und in der die Aersole zerstäuben, wiegen alles auf. Was macht es
       da schon, wenn Speck und Spiegeleier beim Frühstück kalt sind und nur einer
       von drei Hotelaufzügen funktioniert?
       
       19 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Drouve
       
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