# taz.de -- Kinderärztin über Leistungsturnen: „Die Pubertät wird verzögert“
       
       > Verlorene Kindheit, Ess- und Zyklusstörungen können Folgen des
       > Leistungsturnen sein, sagt Ärztin Edda Weimann. Erwachsenwerden sei nicht
       > erwünscht.
       
 (IMG) Bild: Rio 2016: Die erst 16-jährige Sae Miyakawa turnt am Boden. Sie wird mit Japan Vierte
       
       taz: Frau Weimann, wenn Ihre Kinder den Wunsch geäußert hätten,
       [1][Leistungsturner*innen werden] zu wollen – hätte Sie das schockiert? 
       
       Edda Weimann: Nein, eigentlich müsste Leistungsturnen nicht schädlich sein,
       wenn man es in medizinisch sinnvollen Maßen betreibt. Die Empfehlung ist
       aber auch geschlechtsabhängig: Wenn mein Sohn das gesagt hätte, wäre das
       eher okay, weil es bei Jungs viel weniger negative Auswirkungen gibt als
       bei Mädchen. Die fangen später an. Bei Mädchen ist die aktive Zeit kurz und
       sie starten sehr viel jünger.
       
       Warum ist das so? 
       
       Turnen gehört zu den ästhetischen, gewichtsassoziierten Sportarten. Es ist
       gut, wenn die Mädchen klein und leicht sind. Sie müssen zudem früh
       anfangen, um ihr Gehirn für die komplexen Bewegungsabläufe zu trainieren.
       Das ist wie mit dem Klavierspielen. Jungs dagegen turnen mehr kraftbetonte
       Bewegungen. Daher können die später anfangen zu trainieren, weil sie ihre
       Muskeln zusätzlich mit dem Testosteron in der Pubertät aufbauen können.
       
       Wie sind die körperlichen [2][Folgen für Mädchen], die vor und während der
       Pubertät auf Leistungsniveau turnen? 
       
       Der Titel des Artikels „Busen verboten“ der Journalistin Svenja Beller
       bringt es eigentlich auf den Punkt. Er beschreibt die sogenannte
       Athletinnen-Trias, also die Wechselwirkungen zwischen hoher körperlicher
       Belastung, unterkalorischer Ernährung und Zyklusstörungen: Die Pubertät
       wird durch die hohen Belastungen verzögert, regelrecht unterdrückt. Die
       Mädchen haben dadurch eine sehr niedrige Fettmasse. Sie brauchen aber eine
       gewisse Fettmasse, damit eine normale Pubertätsentwicklung ausgelöst wird.
       Ich habe auch das Knochenalter von Turnerinnen untersucht und kann bei
       einigen Turnerinnen Entwicklungsverzögerungen von zwei Jahren und mehr
       sehen. Essstörungen, Kleinwuchs oder Zyklusstörungen können damit
       assoziiert sein.
       
       Und das ist den Verantwortlichen bekannt? 
       
       Das ist den Trainern schon lange bekannt, leider manipulieren sie dabei
       mit. Weil sie genau wissen: Wenn die Mädchen in diesem präpubertären
       Stadium bleiben, sind sie erfolgreicher. Je weniger Fett, desto leichter
       die Abläufe und desto besser die Sprungaktivität. Eine aktuelle
       [3][Berichterstattung vom Spiegel] zeigt, dass die Mädchen teilweise von
       ihren Trainern gesagt kriegen: „Du bist zu schwer“ oder „Kein Wunder, dass
       du die Übung nicht kannst“. Diese Manipulation hat vor 20 Jahren
       stattgefunden und findet jetzt immer noch statt.
       
       Sie hatten während ihrer Laufbahn selbst Einblicke in Spitzenkader. Welchen
       Eindruck haben sie mitgenommen? 
       
       Es ist schon – sagen wir es positiv – sehr diszipliniert. Das
       Trainingsregime ist streng. Die Mädchen werden regelmäßig gewogen und
       wissen über ihr Gewicht genau Bescheid.
       
       Haben Sie mal miterlebt, dass verletzten oder kranken Sportler*innen ihre
       Beeinträchtigung abgesprochen wurde? 
       
       Es gibt eine gewisse Wertigkeit, abhängig davon, wie wichtig der nächste
       Wettkampf ist. Ich will nicht sagen, dass eine Vernachlässigung
       stattfindet, aber Verletzungen gehören im Leistungssport irgendwie dazu. Es
       wird meist mit irgendwelchen Verletzungen trainiert. Und wenn die Mädchen
       tatsächlich längere Zeit aussetzen und nicht mehr in diesem Trainingsregime
       sind, nehmen sie an Gewicht zu. Und das ist ja genau das, was man nicht
       möchte. Deswegen kann man Turnerinnen über das Training in einem
       körperlichen Stresszustand halten.
       
       Ist ein gebrochener Zeh ausreichend, einen Wettkampf ausfallen zu lassen? 
       
       Glaube ich nicht.
       
       Wird dann mit Schmerzmitteln hantiert, damit es geht? 
       
       Ja, sicher.
       
       Kommen aktuell regelmäßig Leistungsturner*innen zu Ihnen? 
       
       Immer wieder. Aber wenn die so richtig auf höchster Ebene im System drin
       sind, haben die gar nicht mehr so viel Kontakt nach außen. Sie werden dann
       im Kader betreut, aber meist nur von Orthopäden und nicht von Kinder- und
       Jugendärzten. Nichts gegen Orthopäden – aber sie sind auf Knochen und den
       Bewegungsapparat spezialisiert.
       
       Ist Turnen auch schädlich für die Gelenke und Knochen? 
       
       Turnen hat nicht das höchste, aber dennoch ein mittleres
       Verletzungspotenzial. Aber gerade in der Wachstumsphase muss die Belastung
       eigentlich runtergehen. Und das machen die Trainer häufig nicht. Dann kommt
       es auch zu Spontanfrakturen oder Brüchen in der Nähe von Wachstumsfugen,
       die schlecht verheilen.
       
       Wird da nicht eine körperliche Grenze überschritten? 
       
       Man muss sich heute überhaupt im Sport fragen, wo Grenzen sind. Wir regen
       uns über Doping auf, aber eigentlich ist es doch die Gesellschaft, die
       immer wieder neue Rekorde verlangt. Das ist völlig irrational: Es gibt den
       menschlichen Körper – und daneben das riesige Geschäft Olympia und Co.
       
       Was macht das Trainingsregime mit der Psyche der Sportlerinnen? 
       
       Die emotionalen Folgen sind eine verpasste Kindheit. Die Mädchen fangen
       teilweise mit vier, fünf Jahren an, intensiv zu trainieren. Von der Schule
       geht es zum Training, am Wochenende sind Wettkämpfe. Sozialkontakte können
       sie nicht ausleben. Psychische Störungen, auch Burn-out, können die Folgen
       sein.
       
       Waren Turnerinnen immer so jung? 
       
       Schauen Sie sich doch Aufnahmen von früher an, zum Beispiel von Nadia
       Comaneci, die bei den Olympischen Spielen 1976 mit 14 Jahren drei
       Goldmedaillen gewann und die bis dato jüngste Turnerin war. Die war zu der
       Zeit ja noch vollständig vorpubertär: nur Muskelgewebe, kein Fettgewebe,
       keine ansatzweise Brustentwicklung. Mit ihrem Erfolg hat sie eine neue Ära
       des Mädchenturnens eingeleitet.
       
       Wenn das alles bekannt ist – wird dagegen etwas getan? 
       
       Ich habe darüber viel mit Trainern diskutiert. Die sagen dann immer, man
       müsse was ändern, aber das Ausland macht es ja auch so. Das stimmt auch,
       teilweise geht es den Mädchen anderswo sogar noch schlechter. Aber das ist
       ja kein Grund, es genauso zu machen!
       
       8 Jan 2021
       
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