# taz.de -- Türkische Serie „Ein guter Mensch“: Selbstjustiz im Katzenkostüm
       
       > Ein Mann im Ruhestand erhält die Diagnose Alzheimer. Bevor er vergisst,
       > geht er auf Rachefeldzug gegen Verbrecher und die Gesellschaft.
       
 (IMG) Bild: Haluk Bilginer erhielt 2019 den Emmy für seine Rolle als Agâh Beyoğlu
       
       Wann gilt ein Mensch als ein guter Mensch? Agâh Beyoğlu, verwitwet und im
       Ruhestand, wäre gerne so ein guter Mensch. Nachdem er jedoch seinen
       geliebten Kater versehentlich umbringt und tot unter dem Sofa seiner alten
       Istanbuler Wohnung entdeckt, verzeiht er sich diesen Fehler nur schwer. Der
       65-jährige Rentner hat vergessen, das Tier zu füttern und bekommt
       anschließend die ursächliche Diagnose: Alzheimer im Frühstadium.
       
       Dass sich mit seiner fortschreitenden Krankheit auch sämtliche Erinnerungen
       und das Wissen über ungesühnte Verbrechen in Luft auflösen, will er nicht
       wahrhaben und stürzt ihn in eine Depression. Getrieben vom
       Gerechtigkeitssinn und der ärztlichen Aufforderung, sich aufgeschobenen
       Plänen zu widmen, beginnt der ehemalige Justizbeamte seinen minutiös
       geplanten Rachefeldzug gegen Täter und Mitwisser*innen.
       
       Widersacherin Nevra Elmas, gespielt von Cansu Dere, jagt derweil den in den
       Medien als angeblich ersten Serienmörder der Türkei geltenden Rentner im
       Katzenkostüm. Als erste Frau in der Mordkommission gehen ihr unterdessen
       der tägliche Sexismus und die Misogynie ihrer männlichen Polizeikollegen an
       die Substanz.
       
       Nicht nur wird jedes Mordopfer auch mit einer persönlichen Botschaft an
       Nevra gefunden. Als die Blutspur und Suche nach dem Täter sie immer wieder
       in ihren Heimatort führen, droht sie in an dem Fall zu zerbrechen.
       
       ## Gesellschaftliche Amnesie
       
       Drehbuchautor Hakan Günday gilt durch sein literarisches Schaffen als
       Vertreter einer über die Entwicklung der Türkei erzürnten Generation. Oft
       widmet er sich den menschlichen Abgründen seiner Figuren und macht auch in
       diesem Fall keine Ausnahme.
       
       Der wie für die Rolle von Agâh Beyoğlu geschaffene Haluk Bilginer gilt als
       einer der profiliertesten Schauspieler des Landes. Vertreten in zahlreichen
       internationalen Produktionen dürfte Bilginer spätestens seit „Winterschlaf“
       (2014) einem breiteren Publikum ein Begriff sein. Als er 2019 den Emmy für
       seine Rolle als Agâh entgegennahm, mahnte er passenderweise, die eigene
       Gesellschaft doch keiner Amnesie zu überlassen.
       
       Ähnlich subtile Kritik am Zustand der Türkei äußert auch die Serie immer
       wieder. Dass sich ein zwischen Anstand und Wahnsinn schwankender Rentner
       der Gerechtigkeit annehmen will, versinnbildlicht einen Akt der
       Verzweiflung. Nostalgisch sinnierend über eine vergangene Türkei, die es in
       dieser Form nicht mehr gibt, wird er im kommerzialisierten Istanbul zum
       Fremden in der eigenen Stadt.
       
       Agâh, der sich mit einem Wurf aus dem Fenster seines Fernsehers entledigt,
       hält nichts mehr von den Medien und bekommt zunächst wenig mit vom Rummel
       um sein Alter Ego. Währenddessen macht sein halbstarker Enkel den Mörder
       zum Social-Media-Phänomen und bleibt doch unwissend über das Doppelleben
       seines Großvaters.
       
       ## Mafiosi, Machos und Mittäter
       
       In zwölf Episoden schneidet das Krimidrama von Onur Saylak viele
       gesellschaftspolitische Themen an. Denn Agâhs Rachefeldzug gilt nicht nur
       den für sexualisierte Gewalt und Missbrauch verantwortlichen Mafiosi,
       Machos und Mittätern, die brutal zur Stecke gebracht werden. Sie gelten
       auch einer Gesellschaft und [1][Kultur des Schweigens, die Gewalt,
       Missbrauch und Femizid zu häufig duldet]. Gewissensbisse plagen ihn beim
       Entschluss, Unrecht durch Selbstjustiz zu begleichen, dank seiner Demenz
       nicht mehr.
       
       Zahlreiche durchwachsene türkische Serien sind längst zum Exportschlager
       mutiert. Zwei Jahre nach Erscheinen ist „Ein guter Mensch“ auch in
       Deutschland verfügbar. Wer nach dem [2][aktuell gelobten Netflix-Serienhit
       „Bir Başkadır“] mehr als schlichtes Entertainment will, der/dem sei die
       Serie empfohlen. Schnell vergessen werden Zuschauer*innen sie nicht.
       
       Was einen guten Menschen aber letztendlich ausmacht, beantwortet die Serie
       hingegen nicht.
       
       15 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
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