# taz.de -- Aufstieg auf den Gasometer in Schöneberg: Da oben helfen nur noch Buletten
       
       > Sascha Maikowski bringt Menschen an ihre Grenzen, wenn er sie auf den 78
       > Meter hohen Gasometer in Schöneberg mitnimmt. Bald ist damit Schluss.
       
 (IMG) Bild: Mitten drin und doch weit weg: Berlin vom Gasometer in Schöneberg aus gesehen
       
       Berlin taz | Das mit den Buletten sagt Sascha nur, weil er uns das Leben
       retten will. Wir sind so auf Meter 65, als uns langsam die Beine wegsacken,
       wir uns an den Handläufen festklammern. Der Blick glasig wird, die Angst
       sich aus uns erbrechen will. Und Sascha, mit seinen weißen Haaren und der
       runden Brille, sich vor uns die Treppe hochzieht und flötet, wir sollten
       mal überlegen, wo wir gleich eine Kleinigkeit essen. Dahinten, sagt er und
       zeigt in den dunkler werdenden Berliner Himmel, da gibt es die besten
       Buletten, und wir haben seine Lederjacke in der Nase, die so riecht, als
       hätte sie schon einiges erlebt, aber selten Angst.
       
       Das mit der Bulette sei Strategie, wird Sascha später sagen. „Wir quatschen
       die Leute voll, um sie abzulenken.“ Maikowski heißt er, Herr über den
       Schöneberger Gasometer, zumindest bis er Ende dieser Woche erstmal
       schließt. Er ist einer von der Art alter, weißer Männer, die wir eines
       Tages schmerzlich vermissen werden: ein schmunzelnder Geschichtenerzähler,
       mit leicht hochgezogenen Schultern, dem man gern zuhört, wie er die Stadt
       erklärt.
       
       Seit 12 Jahren führt er die Leute an ihre Grenzen, ungesichert hoch auf 78
       Meter, erst Treppen, dann über schmale Gitter durch das begehbare Gerüst.
       Und erlebt dabei, was Höhe mit ihnen macht. Ein unvergessliches Erlebnis,
       hatte Saschas Team vorher in einer E-Mail versprochen. Und wir hatten das
       erst noch hochmütig als Floskel abgetan.
       
       Sascha selbst hat drei Monate gebraucht, um nach oben zu kommen. „Ich
       dachte, das ist wie Bungee-Jumping, das macht keiner, der was im Kopf hat.“
       Warum hat er es dann trotzdem versucht? „Weil es in kaum einer anderen
       Stadt der Welt so einen guten Blick gibt wie hier oben.“
       
       ## Ausdehnbare Gas-Glocke und Günther Jauch
       
       Aber noch mal von ganz unten. Bevor wir die erste Stufe betreten, bekommen
       wir eine gelbe Warnweste, legen Taschen ab, dann wird die Tür hinter uns
       abgeschlossen. Eine Frage klären wir gleich auf „der Eins“ – so nummeriert
       Sascha die begehbaren Ringe des Bauwerks durch – es heißt der Gasometer und
       nicht das Gasometer. Und der wurde zwischen 1908 und 1910 gebaut,
       speicherte bis 1995 Stadtgas in einer ausdehnbaren Glocke – unten
       verschlossen mit Wassertassen –, in der dann später Günther Jauch
       rumtalkte.
       
       Wir aber sind draußen. Jetzt auf der Drei. Der Fernsehturm sieht fast
       schwarz aus. „Hartes Licht heute“, sagt Sascha und zeigt in die andere
       Richtung: Rathaus Schöneberg, Kennedybalkon. Autobahnüberbauung
       Schlangenbader Straße. Er weiß, wo Kevin Kühnert wohnt – sagt es aber nicht
       – und wo der alte Besitzer vom Quasimodo seine Balkonzigarette raucht.
       Erzählt, welche Gebäude man hochkommt, kennt die Namen der
       Kirchturmspitzen. „Wir haben auch viel von den Gästen gelernt“, sagt er. 30
       Prozent kämen aus der Umgebung. Kürzlich war ein älterer Herr da, der die
       Elektrik vom Fernsehturm verbaut hat. Architekten kommen und Politiker.
       Wowereit war auch mal da. Und ist er ganz hoch gegangen? „Darüber spricht
       man nicht.“
       
       Sascha ist in Berlin geboren, russisch-polnischer Hintergrund, wann genau,
       will er nicht sagen. Hat er mal gemacht hat, da wurde ihm ein Job abgesagt.
       Jemand fand, er sei zu alt. Er findet das nicht. Mit 12 entschied er, zu
       reisen. Er ging in London zur Schule, arbeitete in den USA. „Aus dem
       Deutschland der 50er Jahre wollte man weg.“ Sagt er. Er zog mit
       amerikanischen Jazzmusikern und der New Yorker Anarcho-Theatergruppe The
       Living Theater rum, surfte, fuhr Motorrad und ging irgendwann zu
       Reiseveranstaltern, um sich Arbeit zu suchen.
       
       Sascha ist einer, der im Flugzeug am Fenster sitzt. Er hat Expeditionen,
       Studien- und Weltreisen organisiert, in Berlin nur seine Koffer neu
       gepackt. Bis er hier – zumindest im Sommer – Kreuzfahrtgäste umher führte,
       die in Rostock anlegten. Sesshaft wurde er erst durch den Gasometer. Und zu
       dem kam er über eine Annonce, Guides gesucht. Seine Chefin stieg nach etwas
       über einem Jahr aus. Dann bot man Sascha an, zu übernehmen. Er hatte zwar
       keine Lust auf die Büroarbeit, die damit anfiel, doch irgendwann gab er
       nach.
       
       „Wir sind jetzt auf der Vier“, gibt Sascha an sein Team übers Funkgerät
       durch. Wir gehen über eine der Ausbuchtungen, die um die Stützen
       herumführen, halten uns am rostenden Stahlskelett fest. Es fühlt sich so
       an, als würde die Schädeldecke aufgehen. Bezugspunkte im Innen oder im
       Außen suchen? Blick auf Sascha, der wirkt auf eine Art geschäftig, die
       beruhigt, der man aber auch misstraut: Ständig wird der Standort ans Team
       durchgegeben, die Funktion von Walkie-Talkies geprüft. Alles irre
       gefährlich hier oder vielleicht auch Teil der Strategie?
       
       ## Höhenangst ist Einbildung
       
       420 Stufen sind es insgesamt. Ein Aufstieg zu sich selbst. Wahrscheinlich
       stärkere Wirkung als Kundalini-Yoga auf LSD. Weil man merkt, dass Angst ein
       Freund ist, dem man in die Augen schauen muss. Sascha fummelt ein Band ab,
       das sich um die rostende Balustrade gewickelt hat. „Ich will nicht, dass
       hier jemand stolpert.“ Niemand will das. Dahinten brütet ein Turmfalke,
       erzählt er dann.
       
       Wie oft er oben war, zählt er nicht. Genauso wenig wie seine Weltreisen. Er
       macht Touren zum Sonnenaufgang, zum Sonnenuntergang, zwischendrin. Über
       Neukölln geht die Sonne auf. „Jeder Stadtteil bekommt durch die
       aufsteigende Feuchte eine andere Farbe. Wie in Manila. Ein Farbenmeer bis
       dorthinaus.“ Er sieht, wie Lichter angehen. Wie Menschen ins Bett gehen
       oder zur Arbeit, die meisten nicht so gern wie er, vermutet Sascha. Er ist
       weit weg von allem, aber genau mittendrin.
       
       Im Winter pausierten die Touren immer für ein paar Monate, Sascha ging
       trotzdem hoch. Auch zu Silvester. Bald dann das letzte Mal. „Wir weinen
       jetzt schon.“ „Wir“ sagt er, sein Team, sei wie seine Familie. „Wir feiern
       auch Geburtstage zusammen.“ Jeder der Guides hat nebenbei noch einen
       anderen Beruf – Musiker, Künstler, Lehrer –, das ist Sascha wichtig, denn
       sie seien keine Stadtrundfahrtsmaschinen. Und alle haben am Anfang Angst
       gehabt. Das sei Einstellungsvoraussetzung, sonst könne man die Angst der
       anderen nicht nachvollziehen, um sie ihnen zu nehmen. Bricht jemand ab,
       muss der Guide dem Team ein Bier ausgeben.
       
       Wen die Angst lähmt, der wird abgeholt. Zwei, drei Fälle gab es, die am
       Boden sitzend die Treppen runterrutschen mussten. Die Quote der Abbrecher
       sei vor allem dann recht hoch, wenn die Tour ein Geschenk war. Ansonsten
       seien es etwa 5 Prozent, die es nicht hochschafften. Eher Männer. Frauen
       würden sich den Aufstieg vornehmen und durchziehen. Aber was macht die Höhe
       mit den Menschen? Man fühle sich wie ein Held, sagt Sascha. Als er das
       erste Mal runtergekommen sei, war er anschließend im Supermarkt und habe
       gedacht: „Wieso erkennt mich keiner? Ich war doch da oben! Ich war doch
       über euch!“ Hat aber keiner gesehen.
       
       „Wir gehen jetzt auf die Sieben“, sagt Sascha, es klingt bedrohlich. „Wir
       müssen auch nicht ganz nach oben“, sagen wir. Doch, doch, sagt Sascha. Und
       dann kommt das mit der Bulette. Wir gehen weiter, die Welt wabert. Über
       Spandau geht die Sonne unter. Und wir fühlen uns wie ins Wasser geworfene
       Schaumstofftier-Kapseln.
       
       Auf der Sechs steht eine andere Gruppe. Wir gucken runter. Ein Mann sitzt
       etwas Abseits. „Hast du da einen Wowi?“ fragt Sascha durchs Funkgerät,
       eines ihrer Codewörter. Ein anderes ist Rathaus Schöneberg: Wegen der Uhr
       dort, ein Hinweis, dass es Zeit ist, herunterzugehen. Der Kollege schüttelt
       den Kopf. Kein Wowi. Kein Bier später.
       
       Höhenangst sei ja eine eingebildete Sache, sagt Sascha. Und wahrscheinlich
       hat er recht, jedes unserer existenziellen Gefühle ist immer auch ein
       bisschen eine Einbildung. Das versteht man da oben und stellt sich gegen
       das starke Gefühl, wie gegen den Wind, der hier weht. „Wir sind eine
       Glücksmaschine“, sagt Sascha. „Jeder, der hier hochgeht, überwindet Angst,
       steht da und staunt.“ Und so staunen wir. Und fallen uns trotzdem
       erleichtert in die Arme, als Sascha uns zurück auf den Boden gebracht hat.
       
       27 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Laura Ewert
       
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