# taz.de -- Pandemiebekämpfung in der Kritik: Der Testfall
       
       > Corona bestimmt den Alltag, auch in der Sphäre des Sports. Verloren geht
       > aber eine realistische Bewertung der Risiken. Eine Medienkritik.
       
 (IMG) Bild: Sport unter Coronabedingungen: Cheerleaderinnen der TCU Horned Frogs in Fort Worth, USA
       
       Angenommen, in den Nachrichten würde aus einem bestimmten Grund täglich die
       Zahl der Verkehrsunfälle in Deutschland berichtet. Die Zuschauer würden
       sich wohl zuerst wundern über diese Fixierung aufs Verkehrsgeschehen und
       dann einige Fragen stellen: Waren das heute alles nur Blechschäden? Ist
       jemand umgekommen? Wie hoch war die Zahl der Verletzten? Warum ist es so
       wichtig, dass wir täglich davon erfahren, wenn doch nur wenige Menschen
       gestorben sind? Ist es vielleicht besser, nicht mehr ins Auto zu steigen,
       nicht mehr auf die Straße zu gehen, weil wir von Rambos am Lenkrad umgeben
       sind und unser Leben akut bedroht ist?
       
       Eine Zahl steht erst einmal sehr allein in der statistischen Landschaft
       herum. Man muss sie in Beziehung setzen, erklären und ein paar Hintergründe
       benennen, sonst ergibt eine Nennung von Unfallzahlen genauso wenig Sinn wie
       die tägliche Veröffentlichung von Coronafällen in Deutschland, ein Ritual,
       an das wir uns gerade jetzt in der Erkältungszeit gewöhnt zu haben scheinen
       wie an den Wetterbericht. Der sagt uns, bei Regen an den Schirm zu denken.
       
       Die Coronafallzahlen erinnern uns daran, die Maske bereitzuhalten und
       vorsichtig zu sein. Wenn nun die neuen Coronafälle halbstündlich im Radio
       referiert werden, wäre es dann nicht ebenso wichtig zu erwähnen, ob jemand
       hospitalisiert werden musste? Starb wer am Coronavirus? Wie hoch ist die
       Auslastung der Intensivstationen? Wie hoch war die Positivquote der Tests?
       Was misst dieser Test überhaupt? Und für Insider: Warum wird der CT-Wert
       der Tests nicht bundesweit einheitlich veröffentlicht, damit man sich ein
       Bild über den Anteil der wirklich Infektiösen machen kann?
       
       Diese Zahlen gibt es, sie werden aber viel zu wenig benannt. Zumeist
       starren alle nur wie gebannt auf die bis zur Ermüdung präsentierten
       Fallzahlen und insinuieren – gewollt oder nicht – eine Parallelität von
       Coronapositiven und Erkrankungen beziehungsweise Infektiösen. Eine
       Fixierung auf die reinen Fallzahlen bringt die Öffentlichkeit aber nicht
       weiter, weil damit keine valide Aussage über die aktuelle Pandemiegefahr
       getroffen werden kann. Relevanter ist da schon die Positivquote der Tests,
       die seit Wochen zwischen 0,8 und 1,6 Prozent liegt – in Deutschland
       wohlgemerkt. In den vergangenen 14 Tagen sind hierzulande im Schnitt 0,2
       Menschen pro 100.000 Einwohner an Covid-19 gestorben (Quelle: European
       Centre for Disease Prevention and Control). Und 0,04 Prozent der Deutschen
       hatten in den vergangenen 14 Tagen einen Coronabefund. Zum Vergleich: In
       der Hochphase der Pandemie starben in Großbritannien über 60 Menschen pro
       100.000 Einwohner.
       
       In Deutschland sterben täglich etwa 2.500 Menschen, ein Dutzend davon
       zuletzt im Schnitt mit oder an Corona. Wir befinden uns – auch wenn das
       paradox klingen mag – in Deutschland nicht mehr in einer akuten
       Gefahrenlage. Das kann sich in der Erkältungszeit ändern. Jahreszeitlich
       bedingt gibt es hierzulande bereits einen Anstieg der Positivtests; es ist
       sogar damit zu rechnen, dass die Fallzahlen in den fünfstelligen Bereich
       steigen. Dennoch: Das Virus ist da, aber es gibt keinen Grund zum
       Alarmismus; wir müssen aufpassen, sollten aber nicht in Angststarre
       verfallen. Ein täglicher Realitycheck vor allem der Zahl der täglichen Tode
       ist wichtig, weil die Präventionsmaßnahmen so einschneidend sind, aktuell
       reichen sie von Beherbergungsverboten über Mundschutzverordnungen im Freien
       zu geharnischten Ordnungsgeldern bei Nichtbeachtung der
       Präventionsmaßnahmen. Polizei und auch viele Bürger sind in
       Corona-Habachtstellung, dabei gilt es doch, vornehmlich ältere Menschen ab
       60 zu schützen. Für die kann Corona wirklich gefährlich werden.
       
       ## Coronarichtlinien treffen vor allem unterklassige Vereine
       
       Die Waage zur Taxierung gesellschaftlicher Güter sollte ganz genau justiert
       werden. Das Virus-Monitoring, das wir zum ersten Mal in dieser Form
       betreiben, hat sich bisweilen verselbständigt: Man bekommt den Eindruck,
       eine Schraube wurde so fest angezogen, dass man sie nun nicht mehr lösen
       kann und deswegen vorgibt, sie sitze doch perfekt. Manchmal wird sie sogar
       noch weiter gedreht – wie in diesen Tagen der steigenden Fallzahlen und des
       schwindenden Pragmatismus. Der Sport ist natürlich auch wieder mitten im
       Geschehen.
       
       Seit Wochen dürfen nur wenige und manchmal gar keine Zuschauer in die
       Stadien. Vor allem unterklassige Vereine ächzen unter den
       Coronarichtlinien. Sie verlieren wichtige Einnahmen. Insolvenzen drohen.
       Verzweiflung macht sich breit. „Es ist eine der schlimmsten Situationen, in
       die ein Mensch geraten kann. Wenn du nicht weißt, wie es weitergeht, ist
       das brutal“, sagt der Berliner Eishockeyprofi Marcel Noebels in einem
       Interview. „Den Alltag aus Vor-Corona-Zeiten, den wird es nie mehr geben“,
       orakelt er düster, „Corona wird uns bis ins Grab begleiten.“ Wirklich?
       Noebels, das muss man ihm zugutehalten, ist in einer vertrackten Lage, weil
       die [1][Deutsche Eishockey Liga] immer noch nicht spielt, anders als die
       Fußballligen. Trotzdem warnt Bayern Münchens Vorstandschef Karl-Heinz
       Rummenigge, und man kann nur hoffen, dass er auch für die darbenden
       Viertligisten spricht: „Wenn wir nicht bald wieder Fans in den Stadien
       haben, dann befürchte ich, wird der Fußball großen Schaden erleiden.“
       
       Die Stadt München hatte zuletzt mitgeteilt, dass wegen gestiegener
       Coronazahlen Fußballspiele in der bayerischen Landeshauptstadt mindestens
       [2][bis zum 25. Oktober] ohne Fans stattfinden. Bundesweit ist bis Ende
       Oktober eine Auslastung von maximal 20 Prozent der Stadien erlaubt. Wenn es
       darum geht, zwischen Sportspektakel und Infektionsschutz zu entscheiden,
       dann ist nun klar, wie die Entscheidung ausfällt: Hygiene first, normales
       Leben second. Derzeit geht es freilich nicht mehr wie im März darum, die
       Überlastung des Gesundheitssystems sowie „Übertode“ zu vermeiden (beides
       gelang vorbildlich). In der Argumentation der Hardliner hört man jetzt
       meist nur noch: Die Gesundheitsämter dürften nicht überlastet werden.
       Reicht das aus, um ein Land in Schockstarre zu versetzen?
       
       Im Frühjahr war Vorsicht geboten, weil das Virus neu und unberechenbar war.
       Es war unklar, ob es hierzulande Hunderttausende dahinrafft oder irgendwann
       verpufft. Keiner wusste haargenau, wie aggressiv und ansteckend es ist. Der
       Lockdown war ein probates Mittel, mit der Ungewissheit umzugehen.
       Mittlerweile ist viel Zeit vergangen, und das jetzt wieder sehr strikte
       Festhalten an der Coronaprävention lässt sich auch damit erklären, dass das
       Virus hochpolitisch geworden ist. Es betrat als neutrale Mikrobe
       europäischen Boden und wurde in der politischen Auseinandersetzung
       vereinnahmt. Erinnern wir uns, als die AfD Anfang Februar in der Regierung
       Coronaverharmloser ausmachte, zum Tragen von Masken riet und deswegen
       belächelt wurde. Das politische Bild veränderte sich dann so schnell wie
       die Verbreitung der Seuche. Als der Staat die harte Quarantäne anordnete,
       wurde das Virus zur Projektionsfläche eher progressiver Präventions- und
       Reformideen. Die Einhaltung strengster Regeln, gerade in der Sphäre des
       Sports, wurde nicht selten zum Fetisch.
       
       Grundfesten des demokratischen Selbstverständnisses sind seit Monaten in
       Schieflage geraten. Zur Abwendung von – jetzt sehr wenigen – Todesfällen
       werden bürgerliche Freiheiten eingeschränkt, wenngleich das Tragen eines
       Mundschutzes eher keine Zumutung, sondern ein Akt der Rücksichtnahme
       gegenüber älteren Menschen ist. Harte Einschränkungen mögen in einer akuten
       Gefahrenlage für Leib und Leben geboten sein. Warum viele Menschen
       weiterhin mehrheitlich so großen Gefallen am aseptischen Leben in der
       Präventivrepublik Deutschland haben, ist ein Rätsel, das sich neben der
       sprichwörtlichen deutschen Ängstlichkeit und Obrigkeitshörigkeit nur mit
       dem Schema F der politischen Auseinandersetzung in den vergangenen Jahren
       erklären lässt. Unter Aussparung kognitiver Dissonanzen wird im Kollektiv
       gedacht. So weiß man immer, was richtig und falsch ist, was geboten und zu
       vermeiden ist.
       
       Es gibt mittlerweile einen breiten medialen Konsens, der die Rhetorik von
       Corona-Ordnungspolitikern („Zügel anziehen“ etc.) stützt und etwa mit der
       einseitigen Fallzahl-Präsentation eine gewisse Angstlust an einem
       Zweite-Welle-Szenario in Deutschland schürt. Kritik an dieser Politik wird
       allzu oft delegitimiert und in den Bereich des Obskuren verschoben. Wer
       eine Fixierung auf den Infektionsschutz moniert, dem wird schon mal eine
       Nähe zu Spinnern angedichtet – oder eine Generalverharmlosung der
       Situation. Konsequent zu Ende gedacht, heißt dies: Wir erklären das Handeln
       der Regierung zum Nonplusultra. Deren Coronapolitik ist sakrosankt, weil
       „Covidioten“ sie attackieren. Das ist eine Bankrotterklärung an den
       kritischen Verstand. Anticoronamaßnahmen sind nicht alternativlos. Auch
       „pandemische Lagen von nationaler Tragweite“ brauchen eine offene Debatte,
       einen Wettstreit von Meinungen und Optionen.
       
       12 Oct 2020
       
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