# taz.de -- 30 Jahre Einheit in Waiblingen: Zuversicht, trotz allem
       
       > Der 3. Oktober 1990 ist nicht der wichtigste Tag im schwäbischen
       > Rems-Murr-Kreis. Sondern der 11. März 2009. Warum?
       
 (IMG) Bild: Die Vorwahl 711, mit der Querdenker hausieren gehen, gilt teils auch für den Rems-Murr-Kreis
       
       Der 3. Oktober ist für mich und viele andere hier im [1][Rems-Murr-Kreis]
       nicht das Datum, das sich am tiefsten eingebrannt hat; und auch nicht der
       4. September 2015, an dem die Grenzen offen blieben, oder der 3. März 2020,
       an dem die erste Coronadiagnose in unserem Landkreis bekannt wurde. Es ist
       der 11. März 2009.
       
       Ein 17-Jähriger erschoss in der Albertville-Realschule Winnenden acht
       Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen, danach auf der Flucht
       drei Passanten und schließlich sich selbst.
       
       All die Fragen, die sich andernorts mit anderen Anlässen verknüpfen mögen,
       hat uns der Amoklauf schneidend scharf gestellt: Was macht ein gelingendes
       Zusammenleben aus? Wie können wir aufeinander achten? Einander helfen? Und
       wenn Zorn, Zwist, Ohnmacht, Ratlosigkeit aufquellen – wie umgehen damit?
       
       Natürlich war auch bei uns im Herbst 2015 die Aufregung groß: Leserbriefe.
       Wilde Debatten. Erhitzte Bürgerforen. Aber wenn ich mich heute umsehe,
       stelle ich fest: Auf jeden, der pauschal gegen „Messermigranten“ und
       „Invasoren“ hetzt, kommen viele, die gelassen, und mehrere, die aktiv
       hilfsbereit sind.
       
       Die Coronakrise? Die Vorwahl 711, mit der die Querdenken-Bewegung hausieren
       geht bis nach Berlin, gilt auch für einen Teil des Rems-Murr-Kreises; ein
       Pressesprecher der Gruppe kommt aus unserer Gegend, hält die Verfassung für
       „Besatzungsrecht“, schwadroniert, dass „die Befreiung der Welt“ von
       deutschsprachigem Gebiet ausgehen werde, und behauptet, das Coronavirus
       gebe es überhaupt nicht. Aber: Die Mehrheit, das merke ich in Gesprächen
       jeden Tag, denkt überhaupt nicht so.
       
       Ach herrje, den 3. Oktober hätte ich jetzt fast vergessen. Mal wieder
       typisch: Wir hier im Süden haben uns zu lange, zu wohlig in unserer
       Ignoranz eingerichtet und zu wenig um die nur unvollständig gelungene
       Einheit geschert. Erst, als bei der Bundestagswahl 2017 in unserem
       Partnerlandkreis Meißen die AfD 32,9 Prozent holte, hat uns das
       aufgeschreckt. Wir fragten uns: Wie konnte es dazu kommen?
       
       Also rief ich bei der Sächsischen Zeitung in Meißen an und bekam zufällig
       einen sehr tollen Kollegen namens Peter Anderson an den Apparat.
       
       Vielen Leuten, erzählte Anderson, sei mit der Wende „eine Identität
       weggebrochen“, die Erinnerung sitze ihnen „noch wahnsinnig in den Knochen“.
       Von heute auf morgen wurden sie herausgeschleudert aus der einerseits
       einschnürenden, andererseits fürsorglichen Umarmung im real existierenden
       Sozialismus, wo der Staat vieles regelte und genauso vieles unterband,
       hinein in eine Freiheit, wo jeder alles darf – und wer auf keinen grünen
       Zweig kommt, gilt eben als selber schuld.
       
       Die Wucht dieser Umwälzung schüttelte die Menschen durch. „Hunderttausende
       haben das Land verlassen“, es sind „Existenzen zusammengebrochen, ein
       Haufen Ehen sind auseinandergegangen“, Jugendliche konnten sich „an den
       Eltern nicht mehr orientieren“, denn die Alten waren oft so ratlos wie ihre
       Kinder.
       
       Sicher, den Menschen in Sachsen gehe es heute „so gut wie selten zuvor“,
       sie verreisen, haben „ein Häuschen“ oder können „die Miete zahlen“. Nur:
       Als 2015 die Flüchtlinge kamen, „ist das alles wieder aufgebrochen“. Wieder
       waren die Grenzen offen, wieder setzten sich Wanderungen in Bewegung,
       wieder reihte sich Umbruchbild an Umbruchbild, wieder gärte die Frage auf:
       Was wird jetzt, geht das alles schon wieder von vorne los?
       
       Noch etwas sei hinzugekommen: Die Sachsen „haben wenig Erfahrungen mit der
       multikulturellen Gesellschaft“.
       
       Zum Leben eines Rems-Murr-Schwaben, einer Rems-Murr-Schwäbin gehört
       selbstverständlich, dass er im Kindergarten mit Renata gespielt und im
       Fußballverein mit seinen Steilpässen Aykut in die Gasse geschickt, dass sie
       in der Schule mit Athanasios gelernt und Zeynep zur Nachbarin hat; dass
       schon der Vater mit Zugewanderten an der Werkbank stand; dass Eltern wie
       Kinder im Urlaub oder Schüleraustausch mit Fremden gefeiert haben.
       
       Meine Söhne heute rauchen mit ihren Kumpels Shisha (persisch), trinken dazu
       Albra-Cola (eine lokale Marke, die von der Alb ra kommt, also von der Alb
       herunter) und sagen lachend zu einander „Siktir lan“ (Türkisch für „verpiss
       dich“), „du Gopnik“ (Russisch für Assi) und „Schofseggl“ (Schwäbisch für
       Schafspenis).
       
       Zur jahrzehntelangen Lebenserfahrung im Großraum Stuttgart gehört auch, die
       Spannungen zu kennen, die eine multikulturelle Gesellschaft manchmal mit
       sich bringt – und diese Probleme zwar nicht als schön, aber handhabbar zu
       empfinden.
       
       Das Gespräch mit Peter Anderson half mir, vieles – nicht alles! Nicht die
       Neonazis! Nicht die hasserfüllten Hetzer, die obendrein oft aus dem Westen
       zugewandert sind! – besser zu verstehen: die Sorgen, die Zweifel, die in
       den östlichen Bundesländern heftiger wühlen als bei uns hier.
       
       2018 kam dank eines [2][Reporter-Austauschprogramms] die ebenfalls sehr
       tolle Kollegin Peggy Kompalla von der Lausitzer Rundschau eine Woche lang
       zu uns. Sie fragte sich: Warum tun sich in Cottbus wegen der Flüchtlinge so
       schwere Verwerfungen auf, während es in Schwaben vergleichsweise
       geräuscharm abläuft?
       
       Die Kollegin Kompalla sprach im Folgenden mit dem Landrat, mit
       Bürgermeistern, mit Flüchtlingshelferinnen und Flüchtlingshelfern und
       fasste die Quintessenz ihrer Recherchen am Ende der Woche mit genialer
       Prägnanz zusammen: „Wohlstand macht gelassen.“
       
       „Adorno hatte recht“, heißt es in einem Lied des Humoristen Norbert Alich,
       „die Welt ist schlecht, ja, die Welt ist schlecht.“ Stimmt. Das war sie
       immer und wird sie immer sein. Sofern man kein Auge für das Gute hat. Ich
       begegne jeden Tag guten Leuten – in Sportvereinen, in Parteien, in der
       Nachbarschaft, in Kirchengemeinden, im Büro.
       
       Es sind keine Superhelden, sondern ganz normale Menschen: Sie finden die
       Maske doof, vom Tragekomfort her – und ziehen sie doch über, aus Rücksicht
       auf andere. Sie hatten während der großen Flüchtlingszuwanderung ihre
       Bedenken, ob das alles gut geht – und stellten sie zurück, weil es jetzt
       erst mal dringlicher war, vom Dachboden einen Gebetsteppich für die
       Flüchtlingsnotunterkunft nebenan zu holen oder ein paar jungen Syrern
       Deutsch beizubringen.
       
       Klinge ich, der ich schneckenfett im Speckgürtel Stuttgarts niste, zu
       optimistisch? Das mag, so seltsam es klingt, mit dem 11. März 2009 zu tun
       haben.
       
       Der Amoklauf hat Seelenwunden geschlagen, die bei vielen kaum vernarbt sind
       und nie ganz ausheilen werden. Es wäre Wahnsinn zu sagen, dass dieses
       Ereignis einen Sinn gehabt habe – aber ich habe erlebt: Man kann ihm Sinn
       entgegensetzen.
       
       Winnenden hat das Entsetzliche nicht verdrängt, sondern würdige Formen des
       Gedenkens gefunden. Winnenden stellt sich seiner Geschichte, ohne daran zu
       ersticken, und ist heute wieder ein pulsierendes … okay, „pulsierend“ nehme
       ich zurück … ein recht vitales Städtchen.
       
       Und ich habe viele Angehörige der erschossenen Kindern kennengelernt.
       Selbst in Momenten des ohnmächtigsten Zorns, der schwärzesten Verzweiflung
       waren sie noch um Gerechtigkeit bemüht, um Differenzierung. Manche
       engagieren sich heute für Gewaltpräventionsprojekte oder Afrika-Hilfe. Ich
       bewundere sie.
       
       [3][Adorno] irrte öfter mal, die Guten sind in der Überzahl. Ich finde, es
       besteht Grund zur Zuversicht.
       
       2 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Fluechtlingsunterkuenfte-in-Quarantaene/!5678995&s=Rems+Murr+Kreis/
 (DIR) [2] https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/reportertausch-2019-rundschau-reporter-proben-den-perspektivwechsel-38273634.html
 (DIR) [3] /Debatte-um-Cancel-Culture/!5704284&s=adorno/
       
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