# taz.de -- Verdrehte Fakten in Belarus: Streisand-Effekt auf Belarussisch
       
       > Die Machthaber schaden sich durch ihr Tun selbst. Das vereint die Nation.
       > Janka Belarus erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 39.
       
 (IMG) Bild: Menschen in Minsk während eines Gedenkgottesdienstes für den Verstorbenen Roman Bondarenko
       
       Aktuell erleben wir in Belarus täglich den Streisand-Effekt, ein
       soziologisches Phänomen, bei dem der Versuch, eine bestimmte Information
       nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, nur dazu führt, dass diese
       Information noch stärker verbreitet wird. Und das, was die Machthaber jetzt
       tun, erscheint nicht nur inkompetent und – wie man so sagt – als ob „sie
       sich selbst ins Knie geschossen“ hätten, sondern sie schaden sich durch ihr
       unbesonnenes Handeln vor allem selbst.
       
       Hier ein paar Beispiele: Der Untersuchungsausschuss eröffnet [1][ein
       Strafverfahren gegen den Arzt Artjom Sorokin und die Journalistin Katerina
       Borisewitsch] wegen Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht. Ein
       Strafverfahren wegen der Ermordung Roman Bondarenkos (Minsker Aktivist, der
       Mitte November nach Misshandlunen durch Sicherheitskräfte starb; Anm. d.
       Redaktion) gibt es nicht.
       
       Es ist widerlich, dass auf höchster Ebene nicht nur versucht wird, den
       infolge von Schlägen durch Sicherheitskräfte Verstorbenen zu verunglimpfen
       und die Tagesordnung so zu verdrehen, dass man das eigentliche Problem aus
       den Augen verliert. Man präsentiert Untersuchungsergebnisse: es sei Alkohol
       im Urin gefunden worden, es heißt, der Verstorbene sei kein Heiliger
       gewesen, deshalb …
       
       Aber Entschuldigung, für die Geschichte ist es nicht wichtig, ob dieser
       spezielle Mensch getrunken und geraucht hat oder wie sehr er von ihm
       nahestehenden Menschen geliebt wurde. [2][Wichtig ist, wer ihn umgebracht
       hat und warum.] Als Referenzwert: Ethanol im Urin findet man bei 9 von 10
       Toten, weil im menschlichen Organismus Fermentationsprozesse ablaufen, bei
       denen Alkohol entsteht. Ethanol im Urin ist kein Indikator dafür, dass ein
       Mensch Alkohol getrunken hat. Aber Lukaschenko fürchtet einen Märtyrertod,
       durch den es zum Sturz des „starken Führers“ kommen könnte.
       
       Darum eilige Order: Desakralisierung, egal wie. Per Fernsehübertragung. Und
       was haben sie damit erreicht? Ärzte und Journalisten gingen mit Plakaten
       „Null Promille“ demonstrieren und stellten sich mit erhobenen Armen und dem
       Gesicht zur Wand auf, wie Strafgefangene. Dieser Solidaritätsaktion
       schlossen sich andere, nicht gleichgültige Belarussen an. Denn die null
       Promille Alkohol, die bei Roman im Blut gemessen wurden, zeigen, dass der
       Mann nüchtern war. In so einem Zustand kann man Auto fahren, ein Flugzeug
       steuern, ein Atomkraftwerk leiten und sogar einen Staat regieren.
       
       Und jetzt stellen Sie sich vor, dass in einem weihnachtlich geschmückten
       Schaufenster des KaDeWe eine Elfenfigur mit einem Wunschzettel zu sehen
       wäre, auf dem unter anderem „Freiheit“ steht. Wäre das in Berlin möglich?
       Im Minsker Zentralkaufhaus nämlich schon. Ein Foto von diesem Schaufenster
       kursiert übrigens schon im Internet und wird dort heftig diskutiert.
       
       Den Paragrafen 23.34 „Störung der öffentlichen Ordnung oder Durchführung
       einer Massenveranstaltung“ lesen wir heute als „nationalen“. Denn genau
       nach diesem Paragrafen [3][werden tausende Staatsbürger verurteilt,
       verhaftet und bestraft]. Eine solche Verurteilung ist nicht peinlich. Im
       Gegenteil, wir halten sie, ähnlich wie einen Coronatest, bei manchen fast
       schon für obligatorisch. Man sollte sich dazu mit gebührender Ironie
       verhalten.
       
       Wie das Mädchen Dascha zum Beispiel, die sagt: „Jetzt bin ich eine richtige
       Belarussin! ✌️ 14 Tage. Zweimal für je 24 Stunden ohne Essen und Wasser. 10
       Tage ohne persönliche Habseligkeiten. 14 bis 22 unglaubliche Mitgefangene
       auf 14 Plätzen. Die Ausstattung irgendwas zwischen altem Hauseingang,
       Pferdestall und verlassenem Wohnhaus (schwarzer Schimmel, Feuchtigkeit,
       nach Urin stinkende Matratzen, nur kaltes Wasser, nasser Betonfußboden).
       Bis zu den Massenverhaftungen wurden diese Räume als Toiletten und zum
       Rauchen genutzt.
       
       Aber durch die Menschen dort wurden es wunderbare Tage. Wir haben gesungen,
       Sport gemacht, vorgelesen, ‚Mafia‘ gespielt (Intellektuellen-Spiel, in dem
       man herausfinden muss, wer friedlicher Mitbewohner und wer Gangster ist;
       Anm. der Autorin) und sehr viel gelacht und geredet. Die Gefängnisse sind
       voll mit den besten Leuten und wir werden immer stärker und freundlicher
       zueinander. Macht es ‚sie‘ wütend, dass wir fröhlich und mutig sind?“
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       2 Dec 2020
       
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