# taz.de -- Die steile These: Schulen müssen offen bleiben
       
       > Die Zahl der Corona-Fälle steigt. Aber der Regelbetrieb von Schulen und
       > Kitas muss Priorität haben.
       
 (IMG) Bild: Es wird Ansteckungen in Schulen geben, doch dieses Risiko sollte die Gesellschaft eingehen
       
       Die Zahl der Corona-Infektionen steigt wieder, Einschränkungen werden
       kommen. Der Regelbetrieb von Schulen und Kitas sollte dabei oberste
       Priorität erhalten. Es ist klar: Eine hundertprozentige Sicherheit wird es
       auch mit den besten Präventiv- und Hygienemaßnahmen nicht geben. Ein
       gewisses Risiko kann und muss sich jede Gesellschaft leisten – die Frage
       ist, wer wie viele Einschränkungen hinnehmen muss.
       
       11 Millionen Kinder in Deutschland sind unter 14 Jahre alt. Sie brauchen
       Bildung, und sie brauchen Betreuung. Statistisch gesehen stehen hinter
       ihnen 15 Millionen Väter und Mütter oder Sorgeberechtigte, von denen 80
       Prozent Beschäftigte sind.
       
       Schul- und Kitaschließungen haben damit dreifach fatale Folgen: Sie nehmen
       unseren Kindern Bildung. Dies lässt sich weder nachholen noch mit
       staatlichen Zuschüssen abfedern. Sie sind eine massive Belastung für
       Eltern, insbesondere für Alleinerziehende. Mitarbeiter, de facto vor allem
       Mitarbeiterinnen, die ein halbes Jahr lang nur unzureichend einsetzbar
       waren, geraten schnell ins Abseits, auf sie wartet kaum die nächste
       Beförderung. Die millionenfach ausgefallene Arbeitszeit schwächt unsere
       Volkswirtschaft.
       
       Dieser immense Schaden wurde in Kauf genommen angesichts der exponentiellen
       Verbreitung des Virus im März und der schrecklichen Bilder aus der
       Lombardei. Spätestens seit April verdichteten sich aber die Hinweise
       darauf, dass Schulen und Kitas nicht wie anfangs angenommen Treiber des
       Corona-Infektionsgeschehens sind. Das ist bis heute der Stand: Je jünger
       die Kinder, desto geringer sogar die Ansteckungsgefahr, die von ihnen
       ausgeht, so inzwischen die Mehrheitsmeinung der Forschung. Und heute wissen
       wir, dass das Risiko gesunder Kinder, aufgrund einer Ansteckung
       schwerwiegend zu erkranken, bei nahezu null liegt.
       
       Doch blicken wir einmal zurück auf die Prioritätensetzung in Deutschland zu
       Beginn der Pandemie. Zeitgleich mit den ersten Schulschließungen Anfang
       März waren Massenveranstaltungen mit mehreren hundert Gästen noch zulässig.
       Die Skiferien konnten trotz bereits bestehender Expertenwarnungen
       ungehindert durchgezogen werden und Starkbierfeste bis tief in den März
       hinein stattfinden.
       
       Und nach dem Lockdown? Waren wenige Länder so zögerlich wie Deutschland,
       eine umfassende Öffnung von Kitas und Schulen herbeizuführen. Die meisten
       europäischen Länder begannen ihre Öffnungen mit Schulen und Kitas, in
       Deutschland hingegen galt offenbar das Motto „Kinder und Frauen zuletzt“.
       Deutschland nahm diesen Sonderweg trotz drastisch sinkender
       Infektionszahlen bereits ab Mitte April und der zunehmenden empirischen
       Evidenz, dass Schulen und Kitas zu keiner Zeit Treiber des
       Infektionsgeschehens waren. Weltweit.
       
       Stattdessen fand monatelang angeblich „Homeschooling“ in Deutschland statt.
       Echten digitalen Unterricht gab es kaum, kaum eine deutsche Schule kann mit
       der digitalen Ausstattung und Lehre etwa in den skandinavischen Ländern
       mithalten. Wenige gute Ausnahmen bestätigen die Regel, und hier müssen wir
       in den kommenden Wochen und Monaten deutlich besser werden. Doch digitale
       Bildung ersetzt nicht physische Nähe und Betreuung, insbesondere nicht für
       kleinere Kinder und solche mit erhöhtem Förderbedarf.
       
       Diese Kriterien haben aber kaum eine Rolle gespielt, stattdessen ereilte
       und spaltete eine sonderbare Klassifizierung von systemrelevanten und nicht
       systemrelevanten Eltern (und damit Kindern) unsere Gesellschaft in dem
       monatelangen System der Notbetreuung. Bis die Gerichte diese
       ungerechtfertigte Ungleichbehandlung schließlich kippten.
       
       Am Ende ging es um Prioritäten. Und darum wird es auch wieder gehen,
       sollten wir in Deutschland angesichts der Zunahme der Infektionen wieder
       mehr über Schließungen und Verbote sprechen müssen. Was ist uns wichtiger:
       Restaurants, Gottesdienste und Familienfeiern (alles Orte und Anlässe, an
       denen es nachweislich zu Multispreading kam) oder Schulen, Kitas und
       Jugendhilfeeinrichtungen? Sind wir als Erwachsene bereit, die Hauptlast der
       Pandemiebekämpfung zu tragen, oder bürden wir sie unseren Kindern auf?
       Verlangen wir von unseren Kindern, im Unterricht und selbst auf dem
       Pausenhof und damit in vielen Fällen acht Stunden lang ohne Unterbrechung
       Maske zu tragen, selbst wenn kein starkes Infektionsgeschehen vor Ort
       vorliegt? Oder sind wir bereit, Masken auch bei Familienfeiern und im Büro
       zu benutzen?
       
       Kinder haben besondere Bedürfnisse, sie sind verletzlich und sensibel. Was
       in ihrer dichten Entwicklung versäumt wurde, lässt sich nur manchmal
       nachholen. Derzeit geht unsere Gesellschaft darüber ziemlich brachial
       hinweg. Sie erweist sich damit als so kinderfeindlich, wie viele es in den
       vergangenen Jahren immer wieder behauptet – und der Autor und die Autorin
       immer bestritten – haben.
       
       Jede Gesellschaft muss während der Pandemie ein gewisses Risiko eingehen,
       sonst wären wir gar nicht handlungsfähig. Wir verfügen also über ein
       Risikobudget, über dessen Größe natürlich auch politisch und
       wissenschaftlich gerungen wird. Klar ist: Reisen und Familienfeiern haben
       in den vergangenen Wochen einen erheblichen Teil dieses Budgets verbraucht,
       Schulen und Kitas nicht. Fast alle Infektionen, die an Schulen in den
       vergangenen Tagen festgestellt wurden, wurden von außen, oft von
       Erwachsenen, in sie hineingetragen. In den Schulen selbst kam es kaum zu
       Ansteckungen, sie haben nicht nennenswert zum Infektionsgeschehen
       beigetragen.
       
       Wahrscheinlich wird sich dies ändern. Es wird Ansteckungen auch innerhalb
       von Schulen und Kindergärten geben. Wir werden immer besser darin, mit
       diesen Ansteckungen umzugehen, Schnelltests könnten hierbei künftig noch
       entscheidend helfen. Und dennoch: Schulen und Kitas werden zum
       Infektionsgeschehen beitragen. Vermutlich nicht übermäßig, aber messbar.
       
       Als Gesellschaft sollten wir diesmal bereit sein, das in einem gewissen Maß
       hinzunehmen. Weil wir erkannt haben, dass der gesamtgesellschaftliche
       Schaden, den die Schließung von Schulen und Kitas anrichtet, ungleich höher
       ist.
       
       30 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kristina Schröder
 (DIR) Dieter Janecek
       
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