# taz.de -- Die Wahrheit: „Fluffig wie Wollwatte“
       
       > Im Westen von Sumatra gilt ein hohes Alter als Zeichen von Reife und
       > körperlicher Attraktivität. Das lässt die jungen Leute alt aussehen.
       
 (IMG) Bild: Definitiv zu faltenlos für die Minangkabau: Heidi Klum
       
       Ungern älter werden? Den körperlichen Alterungsprozess mit allen Mitteln
       hinauszögern? Für immer jugendlich glatte Haut haben wollen und auf
       Anti-Aging-Cremes schwören? Über solch westliche „Errungenschaften“ können
       Angehörige der Minangkabau, eines jahrtausendealten Naturvolks auf Sumatra,
       Indonesien, nur herzlich lachen. Insbesondere die Frauen.
       
       „Wie bekloppt kann man eigentlich sein!“ (alle Zitate sind aus dem
       Minangkabauischen übersetzt; Anm. d. Red.), ruft Sara, 67 Jahre alt, eine
       der Stammesführerinnen der seit jeher matriarchal organisierten
       Gesellschaft, als sie uns auf ihrem festlich geschmückten Dorfplatz
       würdevoll empfängt.
       
       Die siebenfache Großmutter ist auf jedes ihrer Lebensjahre, jedes Fältchen,
       jede hervorquellende Ader an Händen und Füßen sackstolz. „Wollen Sie mal
       mein butterweiches Bindegewebe an den Oberarmen anfassen? Fluffig wie
       Wollwatte!“
       
       Auf einer Art Thron aus Zedernholz lümmelnd, präsentiert sie anschließend
       ihre Altersflecken an Armen und Gesicht. Die Hälfte, flüstert sie hinter
       vorgehaltener Hand, sei jedoch nur aufgemalt. „Alters- gleich
       Schönheitsflecken, das ist unser Credo.“ Auch Warzen und Hühneraugen gelten
       als beauty spots.
       
       ## Jugend gleich Pickel
       
       Andere Kulturen, andere Sitten: Eine hohes Alter wird bei den Minangkabau
       seit jeher mit Würde, Reife und Erfahrungsreichtum assoziiert. Jugend
       hingegen mit Blödheit. Jugend gleich Pickel, schlechte Youtube-Videos
       glotzen, auf Tiktok herumlungern und ekliges Slush-Eis schleckern, um nur
       einige Irrungen der Sturm-und-Drang-Jahre zu nennen – eine Sichtweise, die
       durchaus auch Bewohner der westlichen Welt nachvollziehen könnten.
       
       Die Schattenseite all dessen: Menschen unter 30 Jahren werden bei den
       Minangkabau vielfach gemobbt. Jugenddiskriminierung ist hier weit
       verbreitet. Sara sagt, sie fände das nicht gut. „Die können doch auch
       nichts für ihre eklige Babypopohaut, glatt wie billige Plastikfolie.“
       
       Während das Wörtchen „Altenwahn“ in Deutschland eher nach zunehmender
       Demenz irrer Greise klingt, ist es auf Sumatra Bestandteil einer
       gesellschaftlichen Maxime. In der lokalen Model- und Kulturszene haben
       junge Menschen keine Chance. Für Frauen unter 40 gibt es kaum Filmrollen,
       außer die der naiven, grünschnabeligen Studentin, die von allen gehänselt
       wird. Zeitschriften von Brigitta Superwoman bis Flott & faltig geben Tipps,
       wie man sich Mundfalten schminkt. Annoncen für platingraue Haartönungen
       dominieren den Markt. Kosmetiker werben damit, Feuchtig- und
       Grünstichigkeit hinter den Ohren zu entfernen, gegen kostspielige Summen.
       
       Traurig: Viele junge Frauen gelten auf Sumatra als unerfahren, finden
       keinen Mann. „Die wollen nun mal nur uns vollreife Drachenfrüchtchen“,
       schmunzelt Sara. „Ecken, Kanten und ein gewisses Maß an Verlebtheit“
       verliehen älteren Frauen eben mehr Charakter. Und ihr Hinterteil, von Jahr
       zu Jahr breiter werdend, demnächst so ausladend wie das eines
       Sumatra-Elefanten, trüge das seinige bei, verrät Sara augenzwinkernd,
       während sie mit einer forschen Handbewegung wieder einen dieser
       dreißigjährigen Milchbärte abwimmelt, der um ihre Beine streift. Das heißt,
       angeblich ist er dreißig, vermutlich ein Jahrzehnt jünger.
       
       ## Aufgepinselte Krähenfüße
       
       Ein Einzelfall wäre das nicht: Unter den jungen Minangkabau verschweigen
       viele Menschen ihr Alter oder geben sich absichtlich älter mittels
       aufgepinselter Krähenfüße, gefärbter Strähnen („Greylights“) oder
       beigefarbener Blousons. Frauen schnüren mit Lederbändern ihre Brüste ab,
       damit sie hängend aussehen. Erst ab 45 werde erhobenen Hauptes das wahre
       biologische Alter genannt. Viele versuchen, den körperlichen
       Alterungsprozess irgendwie zu beschleunigen, eigenhändig voranzubringen,
       rauchen Zigarette ohne Filter, buckeln zentnerschwere Reissäcke oder
       schwimmen des Nachts im sagenumwobenen Toba-See. Es heißt, wer bei Vollmond
       im Toba-See kraule, altere mit jeder Stunde um ein Jahr.
       
       Die ganze Gemengelage sei für die jungen Leutchen hier schon ein Problem,
       nage am Selbstbewusstsein. „Auch Menschen unter 40 können attraktiv ein“,
       urteilt Sara salomonisch. Dann erhebt sie sich, schüttelt den fremden
       Gästen aus Deutschland die Hand. Sie müsse jetzt mal ran, das große Fest
       vorbereiten. Ihre Nichte, 47 Jahre alt, feiert heute Nacht ihre finale
       Menopause mit Trommeln, Fanfaren und Ananasschnaps satt, ehe sie am Ende
       auf ein Podest steigt und präsentiert, wie viele Bleistift sie bereits
       unter die erschlaffende Brust klemmen kann: „Das wird eine Sause!“
       
       Lachend und winkend stiefelt Sara davon: „Und grüßen sie die irre Heidi
       Klum von mir!“, wiehert sie noch, ehe sie, mit wehender Silberhaarpracht,
       in einer der Hütten verschwindet.
       
       4 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ella Carina Werner
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Indonesien
 (DIR) Matriarchat
 (DIR) Altern
 (DIR) Rentner
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Mobbing
 (DIR) Alten- und Pflegeheime
 (DIR) Dänemark
 (DIR) Georgien
 (DIR) Hipster
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Barrierefreie Geschosse
       
       Das Lebensalter steigt und mit ihm der Anteil der Senioren in der
       Bevölkerung. Wie ist es so, das Leben in der Gerontokratie?
       
 (DIR) Die Wahrheit: Geiler als jetzt geht’s nicht
       
       Jugendliche sind die Leidtragenden im Lockdown? Haben kein bisschen Fun in
       diesen, schweren Zeiten? Das wollen wir doch mal sehen …
       
 (DIR) Die Wahrheit: Mobbing unter Bäumen
       
       Die dunkle Seite des Waldes: Im dichten Unter- und Oberholz der Forste
       geht’s auch nicht solidarischer zu als unter Menschen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Unkraut jäten im Neurosengarten
       
       The show must go on: In Schleswig-Holstein gibt es seit einiger Zeit ein
       Altersheim für verarmte Künstler. Ein Ortsbesuch.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Sind alle Dänen komplett hygge?
       
       Ein spontaner Feldversuch zum dänischen Lebensgefühl Nummer eins mit
       fatalen Folgen – nicht nur für skandinavische Arschbananen …
       
 (DIR) Die Wahrheit: „Gulag? Haben Sie Gulag gesagt?“
       
       Die Georgien-Woche der Wahrheit: Ein äußerst lehrreicher Besuch im gar
       niedlichen Stalin-Museum von Gori.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Supi Beutel mit Bart
       
       Von Hassfigur bis Popelesser – der moderne Hipster im europäischen
       Vergleich. Mit Chinohose und Hitler-Schnurri!