# taz.de -- Übles angekreidet
       
       > Mit Kreide gegen Catcalling: „Chalk Back“-Aktivist*innen schreiben
       > verletzende Sprüche auf die Straße und posten Fotos davon auf Instagram,
       > um auf sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen.
       > Eine der aktivsten Gruppen kommt aus Hannover
       
 (IMG) Bild: Rund 250 Fälle haben sie und die anderen Mitglieder von „catcallsofhannover“ schon ankekreidet: Lucie von Gierke, Lisanne Richter, Amelie Oltmanns und Saskia Möllering (v. l. n. r.) am Maschsee
       
       Von Carlotta Hartmann
       
       Geübt wischen Lisanne Richter und Lucie von Gierke mit ihren Sandalen
       Kieselsteine von der Promenade am Nordufer des Maschsees. Dann nimmt sich
       von Gierke ein hellgelbes Stück Kreide, kniet sich auf den heißen Boden und
       beginnt zu schreiben: „Zeig mal Schlitz!“, leuchten die bunten Buchstaben
       hinauf. Richter schreibt darunter die Hashtags: „stopptbelästigung“ und
       „ankreiden“.
       
       Die Studentinnen sammeln sogenannte „catcalls“, also ungewollte Sprüche,
       oft sexuelle Anspielungen, die Menschen auf der Straße hinterhergerufen
       werden, und schreiben diese mit Kreide auf die Straße. Ihr Account
       „catcallsofhannover“ auf der Fotoplattform Instagram ist voll mit Fotos von
       grau gepflasterten Straßen, auf denen in knallbunten Buchstaben „catcalls“,
       homophobe, queerphobe oder rassistische Sprüche und Handlungen festgehalten
       sind.
       
       Inspiriert ist das Projekt durch „catcallsofnyc“, einen Instagram-Account,
       der im März 2016 von der New Yorker Studentin Sophie Sandberg gegründet.
       Das New Yorker Projekt kannte Lisanne Richter schon, als ihr im Juni 2019
       auf dem Heimweg eine Gruppe von Männern hinterherpfiff. „Vorher dachte ich
       immer, da kann ich nichts gegen tun“, sagt die heute 23-Jährige. In ihrer
       Wut schrieb sie Sandberg noch am selben Abend eine Nachricht und gründete
       daraufhin den Hannoverschen Ableger der Bewegung. Inzwischen steckt hinter
       „catcallsofhannover“ ein Team von acht Menschen. Rund 250 Vorfälle haben
       Richter, von Gierke und ihre Mitstreiter*innen seit der Gründung auf
       öffentlichen Plätze und Straßen „angekreidet“ und anschließend im Netz
       gepostet. Mit 5.700 Abonnenten ist der Account der erfolgreichste Account
       als Teil der „Chalk Back“-Bewegung in Deutschland.
       
       Das funktioniert folgendermaßen: Betroffene schreiben dem Team über
       Instagrams Nachrichten-Funktion ihre Geschichte. In Absprache mit den
       Einsender*innen schreibt ein Teammitglied die gekürzte Version auf die
       Straße – oft direkt an den Ort des Geschehens. Besonders oft seien sie auf
       öffentlichen Flächen um den Hauptbahnhof herum aktiv, sagt von Gierke.
       
       Am Maschsee blicken Passant*innen verwundert in Richtung der erwachsenen
       Frauen, die mit großen Kreidestücken hantieren. Die bunten Farben lassen
       Kindermalereien vermuten – erst beim genaueren hinschauen wird der Satz
       „Zeig mal Schlitz!“ deutlich. „Angesprochen werden wir als Gruppe selten“,
       sagt Richter.
       
       Meistens ziehen die Mitglieder des „catcallsofhannover“-Teams jedoch allein
       los. Dann kommt es oft vor, dass Passant*innen stehen bleiben und Fragen
       stellen. „Viele sprechen uns an, weil sie uns von Instagram kennen oder
       sogar schon selbst etwas eingesendet haben“, sagt Richter.
       
       Die oft aggressiven Sprüche, die sie auf die Straße schreiben, eröffnen
       aber auch kritische Gespräche. Einigen Passant*innen müssten sie zunächst
       den Begriff „catcall“ erklären. „Die Frauen – auch ältere – verstehen das
       dann meistens“, sagt Richter. Nicht immer stoßen sie auf Verständnis:
       Manchmal müssen sie Grundsatzdebatten über den Feminismus führen. Auch beim
       „ankreiden“ erleben sie unangenehme Sprüche oder Belästigung. „Immer wenn
       mir das passiert, gehe ich danach zwei Wochen lang nicht alleine“, sagt
       Amelie Oltmanns. Wie von Gierke kam die 26-Jährige kurz nach der Gründung
       dazu. Die allermeisten Begegnungen, das bestätigen sie alle, seien aber
       positiv.
       
       Ähnlich sind auch die Reaktionen im Netz. „Wir haben eine sehr positive,
       unterstützende Community“, sagt von Gierke. Trotzdem moderiert das Team die
       Kommentare, um Einsender*innen zu schützen und Relativierung oder
       Diskriminierung zu verhindern. „Am Anfang habe ich bloß darauf geachtet,
       keine Rechtschreibfehler zu machen“, sagt Lucie von Gierke lachend, während
       sie die „Angry Cat“, also eine wütende Katze, neben den Spruch malt.
       Inzwischen hätten sie aber alle eigene Gestaltungsmöglichkeiten gefunden.
       
       „Den Hashtag ‚ankreiden‘ haben wir erfunden“, sagt Richter. Kreide
       verwendet die Gruppe allerdings nicht wegen der Wortspiele. Die bunten
       Farben lassen Kindermalereien vermuten – ein harter Kontrast zu den oft
       grafischen Sprüchen. Dass diese mit der Zeit verwischen, ist dabei fast
       gewollt: „Das sind schmerzhafte Erfahrungen, die sollen da nicht ewig
       stehen“, sagt von Gierke. So sei das „Ankreiden“ Teil eines Prozesses.
       
       „Wir versuchen, auf die Wünsche von Betroffenen einzugehen, schließlich
       soll das ‚empowernd‘ sein“, sagt Richter, also Betroffene dabei
       unterstützen, eigenmächtiger, selbstverantwortlicher und selbstbestimmter
       zu werden. Wie das wirkt, haben beide selbst erlebt. „Ich habe in einer
       anderen Stadt etwas ankreiden lassen, das schon lange her ist – das war ein
       schönes Gefühl“, sagt Richter. Von Gierke erzählt, die Kommentare anderer
       Instagram-Nutzer*innen hätten ihr sehr geholfen.
       
       Auch auf andere aktuelle Geschehnisse und diskriminierende Strukturen macht
       die Gruppe aufmerksam. Mitte Juni haben sie am Steintor den Hashtag
       „saytheirnames“ sowie die Namen von Opfern rassistischer Polizeigewalt in
       den Vereinigten Staaten und in Deutschland aufgeschrieben. Diese erneuern
       sie regelmäßig, statt sie vom Regen verwischen zu lassen. Auch Femizide in
       der Türkei sind ein Thema: „Alleine im Juli 2020 starben in der Türkei 36
       Frauen durch einen gewalttätigen Angehörigen. 2019 waren es insgesamt 474“,
       steht auf Deutsch und auf Türkisch am Kröpke auf der Straße. Der
       dazugehörige Instagram-Post verweist auf Zeitungsartikel, die die Situation
       erklären.
       
       Seit der Gründung der hannoverschen Gruppe sind in Deutschland einige
       Accounts dazugekommen. Inzwischen gibt es in 20 deutschen Städten eine
       solche Gruppe. Die Bewegung ist weltweit vernetzt. Die
       Solidaritätsbekundungen nach dem Mord an George Floyd etwa fanden in
       Absprache mit anderen Accounts statt. So sollten People of Colour zu Wort
       kommen, um den Protest aus Kreide möglichst „triggerfrei“ und respektvoll
       zu gestalten. „Wir wollen Opfer zu Wort kommen lassen, statt sie zusätzlich
       zu belasten“, erklärt Richter.
       
       Die Gruppe „catcallsofhannover“ ist mehr als ein Sprachrohr für Opfer
       sexueller Belästigung. Sie schicken Betroffenen Hinweise auf Opferhilfen
       und die Möglichkeit zur Anzeige. „Viele haben Hemmungen davor, zur Polizei
       zu gehen“, sagt Lucie von Gierke. Darauf, dass Beleidigung, sexuelle
       Belästigung oder exhibitionistische Handlungen strafbar sind, weisen sie
       auch auf ihrem Instagram-Account hin.
       
       Auch untereinander unterstützen sich die Mitglieder. „Ankreiden zu gehen
       ist eine sehr spezielle Erfahrung“, sagt von Gierke. Besonders wenn dabei
       etwas passiere, könne das sehr belastend sein. Über solche Vorfälle wird
       direkt die ganze Gruppe informiert. „Das ist viel emotionale Arbeit“, sagt
       auch Amelie Oltmanns. Sie hockt auf einem Fahrradweg am Maschsee und
       schreibt in großen, gelben Buchstaben auf die Straße. Von Gierke steht
       schützend hinter ihr, während Radfahrer*innen irritiert einen Bogen um sie
       machen und auf die Straße blicken: „Wunder dich nicht, wenn du vergew*ltigt
       wirst, wenn du dich anziehst wie eine Schl*mpe!“. Darunter stehen in lila
       und grüner Kreide die Hashtags „stopptbelästigung“ und „ankreiden“, daneben
       die „Angry Cat“.
       
       Instagram-Account „catcallsofhannover“:
       www.instagram.com/catcallsofhannover
       
       14 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carlotta Hartmann
       
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