# taz.de -- Auf rutschigem Grund
       
       > Nach dem Putschversuch wurden Menschen, die aus der Türkei nach
       > Deutschland kamen, solidarisch empfangen. Wie erging es ihnen, als das
       > Interesse an der Türkei nachließ?
       
 (IMG) Bild: Schön war’s, aber es ist Zeit zu gehen: gazete macht Platz für Neues
       
       Von Eren Paydaş
       
       Die Menschen, die nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 nach
       Deutschland kamen, wurden damals mit einem ganze besonderen Interesse
       aufgenommen: nämlich als eine Migrationswelle qualifizierter white-collar
       workers, die immerhin vor einer Diktatur geflohen waren. In den folgenden
       vier Jahren hat sich die Situation in der Türkei nicht verändert, aber das
       Interesse der deutschen Öffentlichkeit und der staatlichen Institutionen
       ist allmählich erloschen. Was dort passiert, ist hier aus den Schlagzeilen
       verschwunden, und bald schon nahmen die Mittel ab, die Hochschulen,
       Medienstiftungen und NGOs für Menschen aus der neuen Migrationswelle
       bereitstellten.
       
       Die Anthropologin K. Zeynep Sarıaslan hat Interviews mit exilierten
       Journalist*innen geführt, in denen diese Dynamik sichtbar wurde: „Sowohl im
       akademischen Bereich als auch für Journalist*innen werden Hilfen angeboten,
       die nicht aus der Perspektive eines strukturellen Austausches konzipiert
       wurden, sondern der Logik einer von vornherein zeitlich beschränkten,
       humanitären Hilfe folgen“, sagt sie. „Dadurch werden politische Probleme
       auf persönliche Leidensgeschichten reduziert“ und wird „der Umgang mit
       ihnen entpolitisiert“. Sarıaslan wird diesen Sommer in die Türkei
       zurückkehren, weil sie für ihr Forschungsprojekt keine Finanzierung mehr
       bekommen hat. Dadurch ist ihre Aufenthaltserlaubnis abgelaufen. Die
       Wissenschaftlerin hat die Erfahrung gemacht, dass öffentliche Einrichtungen
       sich für sie interessierten und zu helfen bereit waren, solange die Türkei
       im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand. „Das wissenschaftliche
       Interesse an meiner Arbeit wuchs mit den Geschichten, die ich über den
       zunehmenden Autoritarismus erzählt habe.“
       
       In Deutschland hat sie erlebt, wie der Migrant*innenstatus zu einer
       permanenten Anspannung führt, die auch unabhängig von der persönlichen
       Position oder der finanziellen Situation bestehen bleibt. „Migrant*insein
       führt zu einer permanenten Angst, die man aber bei der Arbeitsuche mit
       zeigen darf“, sagt sie. „Der Migrationsstatus sollte Teil des
       Bewerbungsprozesses sein, und es sollte möglich sein, die Forderung nach
       einer absichernden Anstellung selbstverständlich auszusprechen.“
       
       Ahmet Tirgil, der vor drei Jahren aus Dersim nach Berlin gekommen ist,
       kennt diese Ungewissheit. Das Gefühl, im Dazwischen zu leben, verhindert,
       sich hier heimisch zu fühlen und Vertrauen in die Zukunft zu setzen. Der
       professionelle Geiger lebt mit seiner Familie in Kreuzberg und gibt
       Musikunterricht im Kulturzentrum Omayra, das von Arbeitsmigrant*innen der
       alten Generation und politischen Geflüchteten gegründet wurde. Das Gefühl,
       hier Solidarität zu erfahren und in Sicherheit zu sein, bekomme er immer
       noch von den Netzwerken der türkischstämmigen Migrant*innen, sagt Tirgil.
       Er weiß, dass er nach wie vor auf einem rutschigen Grund steht: „Ich kann
       mir nicht leisten, irgendetwas in meinem Leben einfach so laufen zu
       lassen“, sagt er. „Um hier existieren zu können, muss ich ununterbrochen
       arbeiten und alles, was ich tue, dokumentieren.“
       
       Tirgil will, dass sein Kind in Deutschland aufwächst. In der Türkei gebe es
       keine Grundlage für Sicherheit mehr, und alles, was ein Mensch sich
       aufbaut, könne in einem einzigen Augenblick zusammenbrechen wie ein
       Kartenhaus, sagt er. Aber wenn es darum geht, hier eine dauerhafte
       Perspektive zu entwickeln, verfinstert sich seine Miene: „Egal was ich tue
       – meine Existenz hängt von einem Stempel ab, den mir ein Sachbearbeiter auf
       der Ausländerbehörde geben oder verweigern kann. Und das lassen sie mich
       spüren.“
       
       Wer sich nicht auf ein Netzwerk verlassen kann, das solidarische
       Unterstützung leistet, muss häufig entweder zurückkehren oder nach
       erfolgloser Zeit im Land einen Asylantrag stellen. Die Daten des Bundesamts
       für Migration und Flüchtlinge belegen einen starken Zuwachs der Asylanträge
       von Menschen aus der Türkei. Wissenschaftler*innen und Journalist*innen,
       die während des Ausnahmezustands nach Deutschland gekommen sind, bekommen
       immer wieder zu spüren, dass ihnen Angebote und Interesse nicht auf
       Augenhöhe entgegengebracht werden. Statt dem gemeinsamen Ideal von Freiheit
       und Demokratie folgen die Angebote häufig der Logik kurzfristiger
       Hilfeleistungen. Bei einem Land, in dem ein Viertel der Einwohner*innen
       einen Migrationshintergrund hat, muss man von institutionellen
       Versäumnissen sprechen. „Deutschland hat noch immer nicht verstanden, dass
       es ein Einwanderungsland ist“, sagt Sarıaslan. „Deshalb sind die
       Institutionen nicht offen für einen transnationalen Ansatz, den es in einer
       Migrationsgesellschaft braucht. Sie sind noch nicht bereit.“
       
       Aus dem Türkischen von 
       
       Oliver Kontny
       
       24 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eren Paydaş
       
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