# taz.de -- Trendsportart Murmelrennen: Rollt richtig rund
       
       > Murmelrennen erleben dank der sportfreien Coronazeit einen Boom. Die
       > Mischung aus Kindheit und Professionalität begeistert die Sportfans.
       
 (IMG) Bild: Kindheitserinnerung: Murmeln aus Glas
       
       Vier bunte Glasmurmeln rollen eine Rampe herunter, tauchen in Wasser ein,
       schieben Klötze vor sich her. Aufgeregt beschreibt der Kommentator das
       Geschehen. Team Yellow Mellow liegt nicht mehr vorn, Green Ducks hat sie
       überholt, aber da kommen auch schon Balls of Chaos. Die Menge tobt,
       jedenfalls hört es sich so an.
       
       Dann schwenkt die Kamera auf die Ränge: Murmeln sortiert nach Farben
       nebeneinander drapiert, daneben kleine Fan-Plakate, auf denen die Namen der
       Teams stehen. Dramatische Musik ertönt, als die Murmeln die Zielgerade
       erreichen. Fotofinish, Zeitlupe, Analyse vom Kommentator.
       
       Es klingt verrückt, und das ist es auch. Denn, ja, im Grunde ist es ein
       Murmelrennen, wie wir es aus der Kindheit kennen: Murmeln auf die Bahn
       setzen und runterrollen lassen. Aber diese Rennen sind hochprofessionell
       entwickelt und produziert. Mit riesigen Bahnen, die aussehen wie
       Formel-1-Strecken, mit Tribünen, verschiedenen Disziplinen,
       Eröffnungszeremonien, Merchandising, professioneller Kameraführung und
       US-Kommentator. Diese Mischung aus Kindheit und Professionalität begeistert
       die Sportfans.
       
       ## Ablenkung von den Sorgen
       
       1,1 Million Abonnenten zählt der Youtube-Kanal [1][„Jelle’s Marble Runs“]
       aktuell, seit März kamen jeden Monat rund 300.000 neue hinzu. Die Videos
       haben insgesamt 75 Millionen Aufrufe – und machen zwei niederländische
       Brüder zu Protagonisten einer Corona-Erfolgsgeschichte. Einer dieser
       Geschichten von Menschen, die ganz unerwartet von der schwierigen Zeit
       profitieren – indem sie anderen helfen.
       
       Im Fall von Jelle und Dion Bakker begleiten die Murmelrennen
       Sportbegeisterte weltweit durch die sportfreie Zeit und lenken sie für
       einen Moment von ihren Sorgen ab. „Die Magie daran ist, dass du die
       Realität vergisst. Du wirst in das Video eingesogen und bleibst dran, weil
       du willst, dass deine Murmel gewinnt. Das macht süchtig“, sagt Dion Bakker,
       der ältere der beiden.
       
       Seit Jelle Bakker vier Jahre alt ist, baut er Murmelbahnen. Er ist Autist,
       das Konstruieren der Bahnen beruhigt ihn, die Farben, Bewegungen und
       Geräusche der Murmeln begeistern ihn. Mit der Zeit wurden seine Bahnen
       immer professioneller und technisch herausfordernder. Sie sind Hunderte
       Meter lang, bunt, verwinkelt und haben besondere Effekte wie Hürden,
       Rampen, Wasser.
       
       ## Bahnen aus Sand
       
       Jelles Inspiration sind Wasserbahnen, für die der 36-Jährige durch ganz
       Europa reist. Seit 2006 zeigt Jelle seine Murmelbahnen auf YouTube, ließ
       einzelne Murmeln runterrollen und bekam dadurch Aufträge in der ganzen
       Welt: Er baute Bahnen in einem Berliner Einkaufszentrum, einem englischen
       Museum, selbst in China.
       
       Im Jahr 2015 hatte sein zwei Jahre älterer Bruder Dion die entscheidende
       Idee: „Murmelwettrennen! Denn um den Algorithmus bei Youtube positiv zu
       halten, musst du dafür sorgen, dass deine Fans die Videos bis zum Ende
       durchgucken.“ Zuerst waren es einfache Rennen auf Bahnen aus Sand in den
       niederländischen Dünen. „Das klappte gut“, erzählt Dion. „Dann habe ich mir
       die MarbleLympics ausgedacht. Eine Art Olympische Spiele mit Murmeln. Wir
       haben uns zusammen die Disziplinen überlegt, Jelle hat die Bahnen gebaut,
       und ich hab beim Filmen geholfen.“
       
       Seitdem sind sie ein Team. Dion ist zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und
       Marketing, Jelle für den Aufbau der Strecken und den Ablauf der
       Wettbewerbe. Mit der Zeit und dem Erfolg sind 20 Leute hinzugekommen. „Ein
       Komponist aus Griechenland, ein Designer aus Belgien, ein Co-Manager aus
       Deutschland, ein Kommentator aus den USA“, zählt Dion auf. „Und 15 Menschen
       auf der ganzen Welt, die im ‚Jelle’s Marble Runs‘-Komitee sitzen und darauf
       achten, dass die Regeln eingehalten werden, die Ergebnisse und Zeiten der
       Murmeln stimmen und keine Fehler gemacht werden.“
       
       Denn das verzeiht die emotionale Fangemeinde nicht. Alle Teammitglieder
       sind auch treue Anhänger und begannen ehrenamtlich mit der Arbeit. Ende Mai
       ist eine niederländische Produktionsfirma eingestiegen, und Dion hat nach
       20 Jahren seinen Job in einer Kinderpsychiatrie gekündigt, um sich Vollzeit
       dem Murmelprojekt zu widmen.
       
       „Es ist einfach zu viel für zwei Jobs“, sagt er. „Wir möchten ein Game
       entwickeln, eine Dokumentation drehen, mit dem Fernsehen zusammenarbeiten –
       es gab schon Anfragen. Auch von möglichen Sponsoren. Wir haben große Pläne,
       es ist unglaublich cool.“ Mit dem Erfolg kommt aber auch der Stress. „Anton
       Weber, mein Co-Manager, und ich probieren, Jelle zu entlasten, damit er
       sich auf das Bauen konzentrieren kann“, sagt Dion. „Wir müssen auf ihn
       achten und beobachten, wie viel er aushält und wann es schwierig wird. Dann
       müssen wir Leute einstellen. Er ist sehr gefragt und hat straffe
       Deadlines.“
       
       „Jelle’s Marble Runs“ hat mittlerweile drei Hauptkategorien: Marble Ralley,
       bei der die Murmeln einfach einen Hügel hinunterrollen, die Marble League,
       die früher MarbleLympics hieß, mit mehr als 15 Team- und Einzelwettkämpfen
       und die Marbula One, ein Kurzstreckenrennen mit mehreren Runden, wie bei
       der Formel 1. Jelle denkt sich die Strecken und Szenen aus – dabei rollt
       auch schon einmal eine Flitzer-Murmel ins Bild und wird von
       Security-Murmeln hinausbegleitet. Die Fans überlegen sich Background-Storys
       zu den Teams und einzelnen Murmeln, analysieren Statistiken, machen
       Vorschläge zu anderen Routen und wetten.
       
       Die Brüder können nun von ihrer Idee leben. Überrascht sie das? „Wir waren
       schon vor Corona groß, da hatten wir 800.000 Abonnenten, vor allem in den
       USA. 44 Prozent unserer Zuschauer kommen von dort.“ Deutsche machen bisher
       nur 5 Prozent aus. „In den USA leben sie es richtig. Wir verkaufen dort
       viele T-Shirts und andere Merchandise-Produkte. Es gibt Public Viewing mit
       ein paar Hundert Leuten.“ Dion Bakker lacht, so, als wäre diese Vorstellung
       selbst für ihn doch etwas zu verrückt.
       
       Dabei sah es vor zwei Jahren kurz so aus, als wäre alles verloren. „Wir
       hatten eine Mail gelöscht, und daraufhin war unser Kanal weg – mit 130.000
       Abonnenten“, erzählt Dion. Sie mussten neu beginnen. Unterstützung kam von
       langjährigen treuen Fans. Innerhalb von 70 Tagen hatte der neue Kanal
       wieder 100.000 Abonnenten. Die aktuellen Zahlen sind also noch
       beeindruckender, da der Kanal erst zwei Jahre alt ist.
       
       Der krasse Wachstumsschub zuletzt hat natürlich damit zu tun, dass vielen
       Menschen Live-Sportereignisse fehlen, darunter auch Prominente, wie
       Fall-Out-Boy-Bassist Pete Wentz oder der ehemalige englische Fußballspieler
       Gary Lineker. Das von ihnen geteilte Video hat mittlerweile 36,4 Millionen
       Aufrufe bei Twitter. Woraufhin die US-Sender ESPN und NBC Sports Videos von
       „Jelle’s Marble Runs“ zeigten.
       
       Laut Dion Bakker hängt der Erfolg in den USA stark mit „unserer berühmten
       Stimme“ zusammen. Die gehört Greg Woods, Neurowissenschaftler,
       Radiomoderator, freiberuflicher Formel-1- und Nascar-Kommentator – und
       Murmelrenn-Fan. Nachdem er 2015 ein Rennen sah, kommentierte er es zum Spaß
       und lud den Kommentar hoch. Jelle war davon so begeistert, dass er ihn um
       eine Zusammenarbeit bat. Mit Erfolg. Die Fans lieben Greg Woods’ Kommentare
       – mehr als die des berühmten britischen BBC-Formel-1-Kommentators Jack
       Nicholls. Ja, auch er kommentiert nun Murmelrennen.
       
       Nicholls kam zusammen mit der FIA, der Dachorganisation des weltweiten
       Automobilsports. „Sie fragten uns, ob wir zusammenarbeiten wollen. Nun
       machen wir also Marbula E, angelehnt an die Formel E“, erzählt Bakker. Und
       Mitte Mai kündigte der US-Comedian und Late-Night-Talker John Oliver an,
       die Marble League 2020 zu sponsern. Wöchentlich wird er in seiner Show die
       Spiele besprechen. Am 21. Juni beginnt das auf zwei Wochen ausgelegte Event
       – das eine echte Alternative zu den verlegten Olympischen und
       Paralympischen Sommerspielen darstellt.
       
       „Es ist wirklich ein gutes Gefühl, zu dieser Zeit etwas Positives beitragen
       zu können und eine Alternative für den richtigen Sport zu sein“, sagt Dion
       Bakker. „Ersetzen werden wir ihn niemals, und das wollen wir auch nicht.“
       
       8 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=O2AbcCbyJ2U
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christina Weise
       
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