# taz.de -- Philosoph über den Sinn der Berührung: „Der Körper als Seele“
       
       > Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy spricht über den Sinn der
       > Berührung und Kontaktbeschränkungen zu Coronazeiten.
       
 (IMG) Bild: Frühling auf den Elbwiesen bei Dresden
       
       taz: Herr Nancy, Sie gelten als Philosoph eines derzeit raren Guts: der
       Berührung. Darf ich das – mit Derrida – so sagen?
       
       Jean-Luc Nancy: Es war Derrida, der mich dazu gemacht hat. Er hat mich
       sozusagen getauft. Hätte er nicht sein Buch („Berühren: Jean-Luc Nancy“; d.
       Red.) geschrieben, wäre ich mir wohl kaum im Klaren darüber gewesen, wie
       viel Wichtigkeit ich der Berührung verliehen habe. Derrida hat eine Art
       Psychoanalyse meiner Texte unternommen. Während ich selbst mich übrigens
       nie einer unterzogen habe! Dieses Interesse, dieses Motiv der Berührung hat
       sich fast heimlich in die Geschichte des modernen Denkens eingeschlichen.
       Es gibt etwas davon bei Merleau-Ponty, auch bereits bei Nietzsche.
       
       Bis dahin war das große Motiv des abendländischen Denkens das Sehen. 
       
       Das Sehen, das sich auf ein Objekt, auf das Außen, bezieht. Das Fühlen
       spielt sich dagegen in der Nähe, im unmittelbaren Kontakt, ab. Eine weitere
       Besonderheit: Es verbindet sich mit allen anderen Sinnen. So erzeugt zum
       Beispiel das Sehen das Bedürfnis nach einer taktilen Erfahrung. Eine
       Einkerbung der Wand sehe ich nicht nur, ich fühle sie auch. Man möchte
       berühren, was man sieht. Alles, was einen sensibilisiert, hat eine Qualität
       des Fühlens. Wenn ich etwas sehe, aber nichts fühle, ist es leer, seiner
       Sensibilität entleert.
       
       Außer im medizinischen Kontext, so schreiben Sie, sei das Berühren immer
       mit Zärtlichkeit verbunden. Sind Sie daher einverstanden, wenn wir uns dem
       Thema von der Zärtlichkeit her nähern und nicht von der besitzergreifenden
       Seite? 
       
       Absolut. Selbstverständlich. Das fängt mit der Geburt an. Diese ganz
       kleinen Körper, die angesichts ihrer Zerbrechlichkeit eine Beziehung der
       Zärtlichkeit zu uns aufbauen. Auch weisen sie auf einen weiteren Aspekt:
       Berühren erfordert immer eine Kraftregulierung. Nicht alle beherrschen sie.
       Manch einer zerquetscht mir die Hand, wenn er sie drückt! Die Berührung
       geht einher mit einer Ordnung, unter deren Gesetzen die Körper, nicht nur
       die menschlichen, in Kontakt miteinander sind. Wenn das Gefühl fehlt, kann
       ein Körper, wenn es ein lebendiger ist, durch eine Berührung sterben. Das
       Gegenteil der Zärtlichkeit ist die Verletzung. In der Sexualität kann das
       eine in das andere übergehen.
       
       Wir merken zurzeit, wie wichtig nicht nur die sexuelle, sondern gerade auch
       die alltägliche Berührung ist. Sich umarmen, über den Rücken streicheln,
       die Berührung der Schultern während eines Spaziergangs, das Berühren des
       Arms, um Empathie zu zeigen … 
       
       Sicherlich! Nur ist es nicht so einfach zu unterscheiden zwischen Berührung
       und sexueller Berührung. Wo fängt eine sexuelle Beziehung an? Das kann im
       Austausch eines Blicks sein. Die Alltagsberührungen sind affektuös und
       damit nicht absolut trennbar von Sexualität. In jeder Berührung, in jeder
       Zärtlichkeit liegt die Möglichkeit der Sexualität, die Möglichkeit, dass
       die körperliche Verbindung Zweck an sich wird.
       
       Ich nehme an, dass Sie sich zurzeit einer Kontaktsperre unterziehen? Sie
       sind Risikogruppe, haben, darüber reflektieren Sie in einem Buch, eine
       Herztransplantation hinter sich. 
       
       Bis zum 11. Mai gab es für alle eine strikte Kontaktbeschränkung in
       Frankreich. Wobei ich in jener Zeit dennoch auf Order der Ärzte zur
       Echografie ins Krankenhaus musste. Ausgerechnet in eines, das sehr viele
       Covid-19-Fälle hatte. Ansonsten treffe ich aber durchaus mehr Vorkehrungen
       als sonst. Da ich das Glück habe, nicht allein zu leben, überlasse ich die
       Einkäufe der Frau, die mit mir lebt. Obwohl ich gerne einkaufen gehe.
       
       Sie arbeiten ununterbrochen. Im Juli werden Sie 80 Jahre alt. Ihr Herz aber
       ist 20 Jahre jünger als Sie. Ist das fühlbar? 
       
       Leider nein! Körperliche Kraft habe ich fast keine mehr. Gestern wollten
       wir zum Beispiel unsere Fenster putzen. Aber ich bekam keine Erlaubnis, auf
       die Leiter zu steigen. Ich glaube, das liegt an dem Eindruck, den mein
       Zustand vermittelt. Körperlich bin ich nicht mehr in guter Verfassung.
       Einen Nagel in die Wand schlagen, das schaffe ich vielleicht noch.
       
       „Wir empfinden die Isolation wie eine Freiheitsberaubung, dabei ist sie ein
       Schutz“, haben Sie in einem Artikel zu Coronazeiten geschrieben. Das heißt,
       Sie widersprechen Giorgio Agamben und seiner Überwachungsangst.
       
       Eine Kontaktsperre erfordert natürlich zunächst eine Einigkeit. Die
       Einigkeit des Betroffenen mit der Politik, die ihn dazu macht. Aber was
       akzeptiere ich in diesem Fall? Ich akzeptiere eine Logik, deren
       Beherrschung mir absolut nicht gegeben ist. Nun ist die okzidentale
       Gesellschaft eine, die ihre Intellektualität unglaublich zelebriert, wir
       sind komplett umgeben von der Repräsentation des Gedankens, der Logik, der
       Kenntnis, des Kalküls. Das hat Agamben an anderer Stelle sehr gut
       beschrieben. Es ist schon verständlich, dass Menschen, wenn sie etwas nicht
       verstehen, aus der Logik der Vernunft ausbrechen. Die Haltung von Agamben
       gründet jedoch in dieser Beziehung keinesfalls auf etwas Objektivem. Im
       Gegenteil. Jede Intervention des Staates, ganz gleich, um welche Geste es
       sich handelt, interpretiert er als Übergriff. Ich glaube, das ist eine
       absolut überzogene Projektion. Ich kenne ihn ja gut persönlich, auch seine
       Phobie vor einer Beherrschung durch moderne Technologien. Ein großer
       Heideggerianer in diesem Punkt. Als es darum ging, mir das Herz austauschen
       zu lassen, warnte er mich: Nein, mach das nicht! Das sind nichts als
       Dummheiten der modernen Medizin! Aber ich weiß, dass er nicht recht hatte.
       Ich wäre gestorben, wenn ich den Eingriff nicht unternommen hätte.
       
       Gut, dass Agamben nicht Ihr Arzt war. 
       
       Andererseits kann mir niemand sagen, warum es besser ist, dass ich 30 Jahre
       mehr gelebt, soundso viel Bücher mehr geschrieben habe. Ich gestehe, dass
       die Frage der Lebensdauer nicht einfach ist. Länger ist nicht automatisch
       besser! Aber das würde eine weitere Diskussion brauchen.
       
       Wie hängen körperliche Berührung und seelisches Berührtwerden zusammen? 
       
       Die Körper waren in allen Kulturen bislang mehr als anatomische Teile oder
       sensorische Funktionen. Die Körper sind Orte der Ausstellung, auch der
       Ausstellung der Haut (Nancy benutzt das Wortspiel „ex-peau-sition“). Haut
       wird erobert, bewohnt, dekoriert. Die Berührung der Haut ist nie nur
       körperlich. Sie ist immer auch seelisch oder spirituell. Vor allem die der
       nackten Haut. Stellen Sie sich vor, Sie berühren in der Metro eine Hand
       oder einen Teil eines Gesichts. Das könnte sofort als Beginn eines
       sexuellen Übergriffs gesehen werden. Wer sagt das, was es ist? Der Körper
       als Seele, die Seele als Körper!
       
       „Die Seele ist der berührte Körper“, schreiben Sie. Durch Kunst oder Körper
       berührt zu werden, wäre also das Gleiche. Dennoch, im direkten Kontakt wird
       zum Beispiel Dopamin freigesetzt. Ist alle Kunst letztlich Sublimierung?
       
       Was heißt Sublimierung? Es ist ein sehr fraglicher Begriff. Es mag sein,
       dass der Eros im direkten Kontakt noch schöner und stärker wird. Dann gibt
       es Dopamin in einem höheren Grad oder mehr als einfach nur Dopamin:
       Herzensergüsse – um das barbarisch-romantisch zu sagen.
       
       In Ihrem jüngsten Buch „La peau fragile du monde“ benutzen Sie das Bild von
       der Welt als „Faktorielle all unserer Häute“. Lässt sich daraus auf eine
       philosophische Mathematik schließen? Also: mehr Sensibilität gleich eine
       bessere Welt? 
       
       Ja, an Ihre Gleichung möchte ich glauben. Es stimmt, „Faktorielle“ ist ein
       mathematischer Ausdruck. Nur sprechen wir vielleicht eher von einer
       Metamathematik. Es erstaunt mich immer noch, was ausgerechnet Freud
       angesichts der Gewalt des Ersten Weltkriegs schrieb. Er schrieb, die einzig
       mögliche Antwort sei die christliche Liebe.
       
       Christliche? 
       
       Ja, das kommt von Freud! Das christliche Kommando lautet ja, sich
       gegenseitig zu lieben. Nur leider sei es nicht umsetzbar. Aber Freud rührt
       damit an eine wesentliche Frage: Warum hat das Christentum beschlossen,
       sich einen Gott, der Liebe ist, zu schaffen? Von keinem anderen Gott wurde
       das behauptet. Warum kam es dazu? Ich denke, es hat damit zu tun, dass die
       antike Welt in dem Moment, als es zu dieser Konstruktion kam, im Verfall
       war. Es wurde offenbar, dass das Römische Reich mit seiner Technik und
       seinen Verwaltungsapparaten, seiner strengen Rechtsprechung, das bis dahin
       – neben dem chinesischen – mächtigste Reich, in seiner Totalität weder
       aushaltbar noch fortsetzbar war. Es musste also etwas geben, was einerseits
       die unerreichbare Totalität repräsentiert und andererseits eine Alternative
       dazu bietet. Was ist die christliche Liebe? Sie ist das, was unerreichbar
       ist, was nicht da ist.
       
       Unsere Situation ist der römischen in manchem nicht unähnlich. 
       
       Und wir gehen auch daran kaputt. Wenn wir weiterleben, dann nicht, weil wir
       alle Teil einer unendlichen postindustriellen Maschinerie sind. Nein, wenn
       wir weiterleben, dann weil wir es schaffen, in der Organisation unserer
       menschlichen Gemeinschaften Orte des Affektuösen, der Nähe, der
       Freundschaft oder der Liebe zu unterhalten. Ohne diese Fähigkeit hätten wir
       uns alle schon längst umgebracht. Selbst der größte Banker braucht Liebe.
       Vielleicht gibt es Ausnahmen. Leben, die ganz im Kalkül aufgehen. Das kann
       sein. Und auch, dass sie in Bedürfnissen enden, die sie letztlich zerreißen
       – wie jenen unkontrollierter Sexualität. Das ist also nicht, was uns am
       Leben erhält. Wenn selbst Geflüchtete auf einer Insel in Griechenland noch
       ans Weiterleben glauben, dann ist das einer großen Menge an positiven
       affektiven Bezügen geschuldet. Ohne ein Minimum an Vertrauen würde es keine
       einzige dörfliche oder städtische Gemeinschaft geben. Wenn das Vertrauen
       fehlt, führt das zum Bürgerkrieg.
       
       In einem Artikel über das „Communo“-Virus zweifeln Sie daran, ob wir
       bereit sind, uns eine andere Gesellschaft vorzustellen. Aber Sie zitieren
       Marx und seine Idee vom individuellen Eigentum, das heißt: weder Privat-
       noch Kollektiveigentum. Sehen Sie trotz der Zweifel einen Ansatz in diese
       Richtung? 
       
       „Communo“-Virus ist ein Wortspiel, das in Indien entstand. Womit in erster
       Linie gemeint war: ein kommunistisches, vulgo chinesisches Virus. Ich habe
       diesen Begriff geentert. Sehe ich einen Veränderungsansatz? Ehrlicherweise
       nein. Aber was ich feststelle, ist, dass weder privates noch kollektives
       Eigentum zufriedene Gesellschaften zutage bringt. Auch wenn sich
       Privateigentum im Okzident als am effektivsten herausgestellt hat, bleiben
       wir in einem simplen Modell gefangen: dem des Besitzes eines Hauses, eines
       Autos etc. Gleichzeitig merken wir, dass es Allgemeingüter gibt, deren
       Zustand problematisch zu werden beginnt. Wasser. Luft. So versetzt uns die
       Techno-Ökonomie in Bezug auf die elektrische Energie unfreiwillig in einen
       Zustand des kollektiven Besitzes, der wiederum schnell in Privatbesitz
       umschlagen kann, beispielsweise wenn ein Land mehr Elektrizität erzeugt als
       ein anderes und mit dem Abschneiden der Lieferungen drohen kann. Was folgt
       daraus? Marx war nicht mehr in der Lage, seine Idee weiterzuentwickeln. Das
       bin auch ich nicht wirklich. Aber das Modell, das uns fehlt, ist
       erwähnenswert: Man selbst sein zu können in Bezug auf andere, die sie
       selbst sein können. Das individuelle Eigentum kann nie ein Eigentum an sich
       sein. Schon allein, weil ein Ich immer komplex, multipel und unendlich ist.
       
       Wäre es nicht doch sicherer, wenn wir programmierbare Maschinen oder
       zumindest Ärzte und Ärztinnen füreinander würden? 
       
       Ärzte? Sie sind inzwischen auch zu einer Art Maschine geworden. Das wage
       ich zu sagen, auch wenn sie zum Glück noch besser sind als das. Aber der
       Begriff der Medizin wird stark an eine Vorstellung der Technik zur
       Erhaltung des Lebens gebunden. Was nicht reicht, um dem Leben einen Sinn zu
       geben. Die Ambivalenz der Medizin ist, dass sie nicht ausreichend Mittel
       zur Verfügung stellt, die wir uns als Einzelne zu eigen machen können. Wir
       werden zu sehr generalisiert. Wir sind alle sehr komplex und keine Körper
       mit Einheitsfunktionen. Die Gefahr, sich von der Person ab und hin zur
       Statistik zu wenden, besteht. Das hat uns das aktuelle Virus deutlich
       gezeigt. Wir brauchen nicht nur einen Impfstoff, sondern eine Sorge für das
       Miteinander. Gibt es eine Medizin der Seele? Vielleicht nicht. Eine
       Medizin der Seele würde eine Gesundheit der Seele voraussetzen. Was heißt
       das, eine Gesundheit der Seele? Die Seele ist vielleicht immer in einem
       Zustand, der nicht weit entfernt von einer Verrücktheit ist. Eine gute
       Psychoanalyse weiß das. So hat Freud in „Das Unbehagen in der Kultur“
       formuliert, dass die Psychoanalyse nicht dazu da sei, die Gesellschaft zu
       heilen. Das bleibt eine Frage des sozialen Kollektivs.
       
       25 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
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