# taz.de -- Medien und Emotionen: Unbändige Liebe
       
       > Für seine Anhänger ist Erdoğan ein wichtiger emotionaler Bezugspunkt. Die
       > Inszenierung von Affekten in den Medien rutscht derzeit in
       > Gewaltphantasien ab.
       
 (IMG) Bild: In der Berichterstattung ist Erdoğan von einem Nimbus von Liebe umgeben
       
       Die AKP-nahe Presse in der Türkei verfügt über einen Fundus fertiger
       Phrasen, die insbesondere als Schlagzeilen immer wieder auftauchen. Seit
       vielen Jahren gehört der Topos der Liebe zu Erdoğan dazu: Da zeigen kleine
       Jungs eine große Liebe zu Erdoğan, einer alten Bäuerin hüpft das Herz, wenn
       sie an Erdoğan denkt, oder eine Flut der Liebe zu Erdoğan ergießt sich auf
       die Straßen. Unter solchen Überschriften sehen wir dann ein in Zeitlupe
       stilisiertes Video oder riesige Fotos, die darauf abzielen, die
       Medienkonsument*innen mitzunehmen in diesen liebevollen, aufregenden,
       manchmal auch traurigen Moment. Gefühlsstark müssen sie sein, denn
       Erdoğan-Liebe wächst, wenn man sie teilt. In der Berichterstattung ist der
       Führer von einem wattebauschartigen Nimbus von Liebe umgeben.
       
       Jüngst zeichnet sich aber in Inhalt und Akteursprofil dieses
       Nachrichtentopos eine drastische Metamorphose ab. Die Bebilderung der Liebe
       zu Erdoğan, die bei den Zielgruppen Sympathie erwecken sollte, wird
       abgelöst durch Gesichter, in denen leidenschaftliche Liebe vor allem durch
       Diskurse der Wut und Missgunst ihren Ausdruck findet. Bei den Menschen, für
       die Erdoğan-Liebe eine Art politisches Kapital ist, galten Aufrufe zur
       Gewalt gegen Widersacher*innen in den vergangenen Jahren ohnehin schon als
       starker Liebesbeweis. Insbesondere nach dem Putschversuch vom Sommer 2016
       stürzten sich Armeen von Trollen in die Schlacht. Doch heute haben negative
       Emotionen Konjunktur wie noch nie.
       
       ## Performanz von Wut und Gewalt
       
       In den vergangenen Wochen trat in regierungsnahen Fernsehsendern eine Frau
       auf, die erzählte, sie habe eigenhändig eine Feindesliste angefertigt, auf
       der auch Nachbar*innen stehen, und sie und ihre Familie seien willens und
       in der Lage, mindestens 50 Feinde zu töten – gemeint waren Personen, von
       denen sie glaubte, sie hätten Hoffnungen in den vereitelten Putschversuch
       vom Sommer 2016 gesetzt. Es trat ein Scheich auf, der einen strengen Orden
       führt und berichten konnte, ihm sei im Traum ein erneuter Putschversuch
       offenbart worden. Und es gab einen Journalisten, der sagte: “Wenn wir erst
       auf die Straßen gehen, gibt es niemanden, der eure Frauen vor uns schützen
       kann.“ Was diese drei Personen vereint, ist die Behauptung, ihre Worte und
       die dahinterstehenden Affekte speisten sich aus Liebe zu Erdoğan und zu
       dem, wofür er steht. Es bildet sich eine Front, an der sich Erdoğan-Liebe
       durch eine Performanz von Wut und Gewalt zum Ausdruck bringt.
       
       Erdoğan-Liebe findet ihren Widerhall auch in den öffentlichen Drohungen,
       die sich führende Figuren der türkischen Unterwelt hin- und herschicken.
       Als Corona-Maßnahme hatte die Regierung eine Freilassung krimineller
       Gefangener angeordnet, so dass derzeit nur noch politische Dissident*innen
       in den Gefängnissen sitzen. Die frei herumlaufenden Mafiosi veröffentlichen
       unterdessen Videos, in denen sie sich teils mit Schusswaffen auf dem Tisch
       inszenieren, teils mit Babyfläschchen, die als Diss des Konkurrenten
       gelesen werden wollen. Immer aber sitzen sie vor einem Hintergrund, der
       durch türkische Flaggen oder religiöse Symbole geprägt ist. Und diese
       Videos kommen in den sozialen Medien in den letzten Wochen auf
       Zuschauerzahlen, von denen die etablierten Fernsehsender nur träumen
       können. Diese spezifische Untergruppe der Erdoğan-Liebenden setzt sich
       übrigens fast ausschließlich aus Personen zusammen, die in der
       Vergangenheit entweder bei einer der vielen türkischen Sicherheitskräfte
       beschäftigt waren, oder dafür bekannt sind, dass sie außergerichtliche
       Hinrichtungen und ähnliche undokumentierte Dienstleistungen für den Staat
       erbracht haben.
       
       Aus welchen Gründen derzeit die Spannungen unter diesen Personen
       hochkochen, ist eine andere Frage. In jedem Fall ist es spannend zu sehen,
       dass die hochfrequenten Drohvideos, die sie im Netz austauschen, unbeirrbar
       auf den Topos der Erdoğan-Liebe zu sprechen kommen. Dass die Personen
       einander hassen, ist recht schnell zu konstatieren. Wenn sie ihren
       Konkurrenten etwas vorwerfen, dann taucht immer die Anschuldigung auf, der
       andere habe etwas getan, was dem Staat und Erdoğan schadet. Die
       persönlichen und geschäftlichen Gründe für ihre Wut werden über die
       Referenz auf Erdoğan im besten Sinne gewaschen und förmlich legitimiert.
       Die Öffentlichkeit kann sich dann mit der persönlichen Wut auf den je
       anderen Gangster identifizieren. Gegen einige der Video-Celebrities ist die
       Polizei letzte Woche bereits vorgegangen, und man kann vermuten, dass noch
       größere Einsätze folgen.
       
       ## Gewaltvolle Sprache der Erdoğan-Liebenden
       
       Ist die türkische Gesellschaft damit an die Grenzen der öffentlich
       inszenierten Erdoğan-Liebe gestoßen? Es gibt ganze Gated Communities und
       ärmliche Viertel, die vor Erdoğan-Liebe förmlich aus den Nähten platzen.
       Selbst die finstere Unterwelt wird erhellt von dieser Liebe. Es sieht aber
       ein bisschen so aus, als seien verschiedene Fraktionen nicht länger in der
       Lage, das Objekt ihrer Liebe, den Führer, miteinander zu teilen. Aus der
       stürmischen Liebe ist eine unbändige geworden, und siehe da, es ist keine
       Liebe mehr, die wächst, wenn man sie teilt. Im Gegenteil. Die Frage, was
       das für eine Türkei ist, die sich Erdoğan nach seiner Vision formt, und mit
       welchen Human Resources er sie formen will, beschäftigt mittlerweile nicht
       mehr nur die oppositionellen Kreise, sondern auch diejenigen, die
       eigentlich ihren Erdoğan lieben. Denn viele AKP-freundliche Köpfe wissen
       ganz genau, dass Erdoğan es schafft, die Menschen vor seinen Karren zu
       spannen, die vor Liebe zu ihm überschäumen. Es könnte sein, dass sie
       mitlaufen, bis ihre Welt zusammenbricht.
       
       Die herzklopfende Liebe, die einst das große politische Kräftereservoir
       Erdoğans war, schlägt nun um in einen Affekt, der vor allem zweierlei
       Konsequenzen mit sich bringt: Die unbändige, gewaltvolle Sprache der
       Erdoğan-Liebenden schafft eine starke und gut belegbare Erzählung, die die
       Opposition insbesondere der exponentiell wachsenden Gruppe der
       unentschlossenen Wähler gut vermitteln kann. Es sollte mittlerweile
       ziemlich deutlich sein, dass das AKP-Projekt der “Neuen Türkei“ für
       Bürger*innen, in denen sich auch nur der kleinste Widerspruch zu Erdoğans
       Politik regt, nichts anderes mehr vorsieht, als ihnen systematisch das
       Leben zur Hölle zu machen. Zweitens aber kommen wir an einen Punkt, an dem
       die Erdoğan-Liebenden sich nicht mehr primär vor den Machenschaften der
       Opposition fürchten, nicht einmal mehr vor dem unberechenbaren Zorn
       Erdoğans selbst, sondern insbesondere voreinander. Die Akteur*innen, die
       ihrer Liebe zu Erdoğan mit einer derart gewalttätigen Sprache Ausdruck
       verleihen, bedrohen effektiv nicht nur einander, sondern die
       Zukunftsvision, die ihr Führer für sein Land verheißen hat.
       
       Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
       
       22 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ayşe Çavdar
       
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