# taz.de -- Im Atelier der Schwester
       
       > Werner Kohlert und Friedrich Pfäfflin legen eine emphatische Würdigung
       > der Fotografin Charlotte Joël vor, die auch Porträtistin von Karl Kraus
       > und Walter Benjamin war
       
 (IMG) Bild: Charlotte Joël, Porträt des Schriftstellers Karl Kraus
       
       Von Wilfried Weinke
       
       Die Informationen des Stolpersteins in Berlins Klopstockstraße 19 sind
       knapp: „Hier wohnte Charlotte Joël. JG. 1887. Deportiert 19.4.1943.
       Ermordet in Auschwitz.“ Werner Kohlert und Friedrich Pfäfflin begnügten
       sich freilich nicht mit diesen Informationen, in denen ein Leben auf die
       gröbsten Daten verkürzt ist.
       
       Anstoß für eine komplexe Spurensuche lieferte ein Konvolut von Porträts des
       österreichischen Schriftstellers Karl Kraus, das Friedrich Pfäfflin Ende
       der 1980er übergeben worden war. Pfäfflin war ein Vierteljahrhundert Leiter
       der Museumsabteilung des Schiller-Nationalmuseums in Marbach und Initiator
       des Reprints von Karl Kraus’Zeitschrift Die Fackel. Die ihm geschenkten,
       bestechenden Porträtaufnahmen des bekannten Satirikers und Kulturkritikers
       provozierten Pfäfflins Forscherinteresse und so begann er Leben und Werk
       von Charlotte Joël zu erkunden, der Fotografin, von der die Aufnahmen von
       Kraus stammten.
       
       Charlotte Joël wurde in Berlin-Charlottenburg geboren. Noch vor dem Ersten
       Weltkrieg eröffnete sie gemeinsam mit Marie Heinzelmann ein „Atelier für
       moderne Photographie“ in der Hardenbergstraße, nahe dem Bahnhof
       Zoologischer Garten. Ihre Kinderporträts, die durch Unmittelbarkeit und
       Nähe bestechen und Fröhlichkeit wie Traurigkeit, Skepsis wie Neugierde
       ihrer Modelle meisterhaft einfingen, fanden, mit dem handschriftlichen oder
       gedruckten Ateliernachweis „Joël-Heinzelmann“ weite Verbreitung, etwa auf
       Postkarten, in Hausfrauen-Kalendern, Wochenblättern sowie illustrierten
       Zeitschriften. Ihr Bruder, der früh verstorbene Mediziner Ernst Joël
       (1893–1929), nutze einige ihrer Kinderporträts in der 1929 im
       Gesundheitshaus Kreuzberg gezeigten Ausstellung „Gesunde Nerven“.
       
       Um 1913 zählte Ernst Joël zu den führenden Köpfen der deutschen
       Jugendbewegung, organisiert im Wandervogel, später in der
       Freistudentenschaft. Seit dieser Zeit verbanden ihn Freundschaften mit den
       Schriftstellern Gustav Landauer und Walter Benjamin sowie dem
       Religionsphilosophen Martin Buber. Wohl dank der Vermittlung ihres Bruders,
       der in Berlin als Suchtspezialist und Stadtoberschularzt arbeitete,
       kamen all die Genannten in das Atelier der Schwester und ließen sich von
       ihr porträtieren.
       
       Allein Karl Kraus besuchte Charlotte Joëls Atelier zwischen 1921 und 1930
       nachweislich neunmal; Pfäfflin listet fast 40 Motive auf. Die vier
       wunderbaren Porträtaufnahmen von Walter Benjamin ergänzen Fotografien
       seiner Schwester Dora, des Bruders Georg und dessen Ehefrau Hilde, der
       späteren Justizministerin der DDR, sowie zahlreiche Fotos von deren
       gemeinsamen Sohn Michael. Fast en passant kann Pfäfflin nachweisen, dass
       zwei Benjamin-Porträts fälschlicherweise Germaine Krull zugeschrieben
       wurden.
       
       Dazu gesellen sich Aufnahmen der jungen Marlene Dietrich, des 30-jährigen
       Schauspielers Bernhard Minetti, des Stummfilm-Stars Erich Kaiser-Tietz, der
       Ehefrau Gustav Landauers oder der Primaballerina der Deutschen Oper
       Berlin, Mary Zimmermann.
       
       Viel später, als Charlotte Joël schon dem Berufsverbot unterworfen war,
       kamen Fotografien der deutschen Quäkerin Margarethe Lachmund sowie der
       Anthroposophin und Schriftstellerin Clotilde Schenck zu Schweinsberg hinzu.
       
       Vermutlich Mitte der dreißiger Jahre lernte Charlotte Joël die Lehrerin
       Clara Grunwald kennen, eine bedeutende Montessori-Pädagogin, die seit April
       1933 wegen ihrer jüdischer Herkunft aus dem Schuldienst entlassen worden
       war. Beide lebten gemeinsam in der Klopstockstraße, bis sie in ein
       sogenanntes „Judenhaus“ ziehen mussten. Seit 1941 befanden sich beide im
       ehemaligen jüdischen Umschulungslager Gut Neuendorf bei Fürstenwalde, das
       zu diesem Zeitpunkt als Zwangsarbeiterlager fungierte.
       
       Im April 1943 wurde das Lager geräumt. Mit deutscher Gründlichkeit war
       zuvor das „volks- und staatsfeindliche Vermögen“ von Charlotte Joël
       eingezogen worden. Dem staatlichen Raub folgte die weitere Erniedrigung:
       Schon seit 1938 waren die Frauen gezwungen, den jüdischen Zwangsnamen
       „Sara“ zu tragen, nun wurden sie als Transportnummern 404 und 405
       aufgelistet. Über Berlin führte der Weg des 37. Osttransports mit 153
       „Neuendorfern“ nach Auschwitz.
       
       Auch wenn Informationen über die Schul- und Berufsausbildung Charlotte
       Joëls fehlen und Kohlert und Pfäfflin beklagen, dass es bislang kein Bild
       von ihr gibt, vermitteln beide Autoren dank ihrer umfänglichen Recherchen
       und den mehr als 200 abgedruckten, akribisch annotierten Fotografien ein
       facettenreiches Porträt der Fotografin. Eine an keiner Stelle
       marktschreierische Veröffentlichung, sondern eine emphatische Würdigung der
       ermordeten Charlotte Joël, die sie vor dem vollständigen Vergessen bewahrt.
       
       Werner Kohlert, Friedrich Pfäfflin: „Das Werk der Photographin Charlotte
       Joël. Porträts von Walter Benjamin bis Karl Kraus, von Martin Buber bis
       Marlene Dietrich“. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 332 S., 208 Abb.,
       24,90 Euro
       
       28 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wilfried Weinke
       
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