# taz.de -- Kreatives Desinfektionsmittel: Systemrelevante Schnapsbrenner
       
       > Früher Leber-, heute Virenschreck: Statt Gin und Korn produzieren
       > Spirituosenhersteller jetzt Rohalkohol für Desinfektionsmittel.
       
 (IMG) Bild: Es war einmal ein Bier – auch Brauereien brauen nun Ethanol für Desinfektionsmittel
       
       Berlin taz | Desinfektionsmittel statt Kräuterlikör: Die Mast-Jägermeister
       SE in Wolfenbüttel hat dem Klinikum Braunschweig 50.000 Liter Alkohol
       gespendet. Statt zu Kräuterschnaps wird der in der hauseigenen Apotheke des
       Krankenhauses zu [1][Desinfektionsmittel] weiterverarbeitet, sagt
       Jägermeister-Sprecher Andreas Lehmann der taz. „Die Menge reicht für
       Desinfektionsmittel für sechs Monate. In normalen Zeiten würde sie für 1,5
       Jahre reichen“, so Lehmann.
       
       Für die Schenkung hätten die Behörden den Kräuterlikörhersteller von der
       Steuer befreit. Ethanol, so der chemische Name für reinen Alkohol, ist der
       Hauptbestandteil für Desinfektionsmitteln.
       
       Mit der Coronakrise ist der Bedarf an Desinfektionsmitteln in Deutschland
       und weltweit extrem gestiegen, auch [2][weil viele Menschen sich vorbeugend
       damit eindecken]. Die Hersteller können die Nachfrage nicht decken. In
       normalen Zeiten ist die Produktion von Desinfektionsmitteln in Apotheken
       nicht gestattet. Denn Alkohol verarbeiten dürfen nur wenige Firmen, denen
       der Zoll genau auf die Finger schaut.
       
       Auf Alkohol erhebt der Staat hohe Steuern. Bei einer Flasche Korn mit 0,7
       Litern und 40 Prozent Alkohol gehen 3,65 Euro an den Fiskus. Weitgehend
       ausgenommen von der Steuer sind Firmen, die Alkohol für medizinische
       Zwecke, für die chemische Industrie oder für Labore herstellen. Damit keine
       Laborantin auf die Idee kommt, den hochprozentigen Rohstoff zu trinken oder
       mit ihm einen Schattenhandel zu treiben, wird Industrieethanol durch
       Zusätze ungenießbar gemacht.
       
       ## Nicht versteuerter Alkohol ist Mangelware
       
       Im Zuge der [3][Coronakrise] haben die Bundesbehörden befristet zoll- und
       alkoholsteuerliche Allgemeinverfügungen erlassen, die es mehr Produzenten
       erlauben, Industriealkohol zu produzieren und direkt zu vermarkten. Dieser
       Hauptbestandteil von Desinfektionslösungen ist zwar knapp, kann aber
       prinzipiell im Inland hergestellt werden. Die Behörden wollen ermöglichen,
       dass möglichst viele Desinfektionsmittel und die dazu nötigen
       Ausgangsstoffe produziert werden.
       
       Handwerklich waren Apotheken schon immer in der Lage, Desinfektionsmittel
       herzustellen, aber eine EU-Verordnung hat ihnen das bislang untersagt. Auch
       die wurde befristet außer Kraft gesetzt. Mit Ausnahme von Ethanol seien die
       anderen Ausgangsstoffe „derzeit noch über die normalen Bezugswege für
       Chemikalien“ zu beziehen, sagt Kai-Peter Siemsen, Präsident der
       Apothekerkammer Hamburg, der taz. Doch nicht versteuerter Alkohol ist
       Mangelware. Den liefert Siemsen zufolge für Hamburger Apotheken jetzt die
       Hamburg Distilling Company, Produzent des „Knut Hansen Gin“.
       
       Der Apothekerpräsident sagt: „Wir Hamburger rücken in dieser Krise enger
       zusammen. Die Coronapandemie erfordert ungewöhnliche und auch kreative
       Lösungsansätze.“ Doch die Hilfe durch den Ginproduzenten allein reicht
       nicht. Auch das Pharmazeutische Institut der Hamburger Universität, mehrere
       Brauereien und Bioethanolproduzenten liefern Alkohol an Apotheken in
       Hamburg.
       
       Lokale Medien berichten, dass die Schnapsfirma Nordbrand im thüringischen
       Nordhausen, die Sektkellerei Rotkäppchen in Freyburg in Sachsen-Anhalt und
       die Schnapsbrennerei Schraml aus Erbendorf in Bayern neben ihrem
       eigentlichen Sortiment ebenfalls Rohalkohol für lokale Apotheken
       produzieren.
       
       ## Klosterfrau Melissengeist
       
       Damit es nicht bei der Manufakturproduktion der Desinfektionslösungen in
       den Apotheken bleibt, hat der Hersteller von Klosterfrau Melissengeist seit
       April eine [4][Produktionsanlage vorübergehend auf Händedesinfektionsmittel
       umgestellt], berichten lokale Medien. In einem Rundschreiben an Apotheken
       hatte das Unternehmen darauf hingewiesen, dass auch Klosterfrau
       Melissengeist antiviral wirke. Das trifft allerdings auf viele
       hochprozentige alkoholische Getränke zu.
       
       Auch Zuckerproduzenten stellen um. Apotheker aus ganz
       Mecklenburg-Vorpommern stehen vor der Zuckerfabrik in Anklam Schlange, wenn
       einmal pro Woche Ethanol ausgegeben wird. Der entsteht bei der Vergärung
       von Zucker. Käufer müssen ihre Betriebserlaubnis als Apotheker vorzeigen
       und zur Vermeidung von Ansteckungen einen eigenen Kugelschreiber zum
       Unterschreiben des Lieferscheins mitbringen.
       
       Das Unternehmen Nordzucker produziert an seinem Standort in Sachsen-Anhalt
       ebenfalls Alkohol für Desinfektionsmittel – statt wie bisher Biotreibstoff
       für Fahrzeuge. „Aufgrund des erhöhten Bedarfs stellen wir sämtliches noch
       verfügbare Bioethanol ausschließlich für weiterverarbeitende Betriebe zur
       Desinfektionsmittelherstellung bereit“, sagt Sprecher Sven Weber der taz.
       
       16 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Corona-und-Handy-Hygiene/!5676627
 (DIR) [2] /Entspannung-bei-Aldi-Lidl-und-Co/!5677600
 (DIR) [3] /USA-will-Zahlung-an-WHO-einstellen/!5676388
 (DIR) [4] /Baumwollmasken-machen-Sinn/!5670920
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marina Mai
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Alkohol
 (DIR) Hygiene
 (DIR) Krankenhäuser
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Krankheit, Pflege und Geschlecht: Die Versorgung ist weiblich
       
       Und der Tod männlich? Über systemrelevante Berufe und die Rolle der Frau.
       Mit Hinweisen zu Anne Boyer, Katherine Anne Porter und Susan Sontag.
       
 (DIR) Lernen aus der Pandemie: Die Coronalehren
       
       Jetzt wird diskutiert, wann die Coronaregeln gelockert werden. Gelegenheit,
       die Erkenntnisse aus der Pandemie festzuhalten. Hier sind schon mal 77!
       
 (DIR) Entspannung bei Aldi, Lidl und Co.: Corona-Hamsterkäufe gehen zurück
       
       Die Deutschen kauften weniger auf Vorrat als zuvor in der Coronakrise,
       sagen Lebensmittelhändler. Die Angst vor Ladenschließungen lasse nach.