# taz.de -- Vor den Augen liegt der Coronafilter: Die Straße gehört den Verrückten
       
       > Leute, die mit sich selbst im Dialog sind, und Leute, die joggen,
       > beherrschen in Kreuzberg das Bild. Aus dem Fenster guckt derweil ein
       > Denunziant.
       
 (IMG) Bild: Es ist grade Ausnahmezustand und vor aller Wahrnehmung liegt der Coronafilter.
       
       Es ist Tag eins im German Shutdown, auf dem Weg zur Arbeit begegnen mir auf
       der Straße eine Ratte und eine Taube. Beide tot. Frisch gestorben. Der
       Himmel ist so blau, ich kann mich nicht erinnern, jemals so ein reines Blau
       an irgendeinem Himmel gesehen zu haben. In der Mitte stahlblau, also eher
       weißlich. Je höher man schaut, desto dunkler, tiefer das Blau.
       „Tintenblau“, kommentiert ein Freund auf Facebook unter dem Foto, das ich
       vom Kreuzberger Himmel an diesem Tag mache.
       
       Andere diskutieren darüber, ob der Himmel deswegen so blau ist, weil keine
       Flugzeuge mehr fliegen. Tote Ratten sind keine Seltenheit in Berlin. Tote
       Tauben auch nicht. Wahrscheinlich wäre ich an diesem Montag auch an zwei
       Kadavern vorbeigefahren, wenn grade nicht Corona wäre. Aber vermutlich
       hätte ich sie nur am Rande wahrgenommen.
       
       Es ist aber grade Ausnahmezustand und vor aller Wahrnehmung liegt der
       Coronafilter. Auch wenn man gar keine Maske trägt, hat man das Gefühl, dass
       man die kleine Wölbung einer FFP3 ständig vor sich sieht. Diese beiden
       ersten Coronatoten, die ich sah, lagen mit offenen Bäuchen herum, aus denen
       noch gut durchblutete Gedärme heraushingen.
       
       Ich habe eine Rattenphobie. Albert Camus’ „Die Pest“ habe ich irgendwann in
       den 1990ern gelesen, aber nach dem ersten Kapitel das Buch zu- und nie
       wieder aufgemacht. Den letzten Satz im ersten Kapitel von Camus’ Pest habe
       ich nicht vergessen. In meiner Erinnerung lautet er: „Und dann schlossen
       sich die Tore der Stadt.“ Auf den vorherigen Seiten wird beschrieben, wie
       immer mehr tote Ratten auf Straßen und in Treppenhäusern auftauchen.
       
       Ich weiß nicht, ob meine Erinnerung stimmt. Ich habe kein sehr gutes
       Lesegedächtnis und kann nur wenige Sätze aus Büchern zitieren, die ich
       gelesen habe. Ich kann den Satz zurzeit auch nur schwer überprüfen, weil
       das Buch aus meinem Regal verschwunden ist. An Tag zwei im German Shutdown
       war meine tote Ratte bereits eingeschliffen in den Asphalt der Straße und
       die Taube weggeräumt, abgeholt oder aufgegessen worden.
       
       Seitdem die Polizei interpretieren darf, was Bürger draußen dürfen und was
       nicht, sind diejenigen, die sonst „die Straße“ sind, so sichtbar wie sonst
       nicht einmal nachts. Die Straße gehört in diesen Tagen den Verrückten:
       Leuten, die mit sich selbst im ständigen Dialog sind, und Leuten, die
       joggen.
       
       Und ständig kommt um die Ecke ein Polizeiauto gefahren, aus dessen
       Lautsprechern Anweisungen für das Verhalten im öffentlichen Raum gebrüllt
       werden. Aus dem Fenster guckt ein Denunziant. Und im Kopf wartet um die
       Ecke ein Lkw mit Plane zum Abtransport.
       
       Am Tag fünf des German Shutdown finde ich vor meiner Haustüre
       Papiertaschentücher, zwei Kugelschreiber, einen kleinen Koksbehälter aus
       Plastik, ein Röhrchen, ein zerfleddertes, dickes Notizbuch, dessen offen
       liegende Seite beschriftet ist – und einen riesigen Haufen Scheiße.
       
       Der Ekel trat kurz beiseite, damit ich das Notizbuch aufheben könne. Aber
       zu kurz. Der Ekel war schneller wieder zurück, als ich mich bücken konnte.
       Am Nachmittag davor hatte der Himmel begonnen, sich einzutrüben. Er wurde
       schlieriger, weißer, unklarer.
       
       1 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Doris Akrap
       
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