# taz.de -- Identitätspolitische Gewissheiten waren seine Sache nicht
       
       > Die Erinnerungen des Cultural-Studies-Theoretikers Stuart Hall vermitteln
       > die Geschichte Jamaikas vor der antikolonialen Befreiung und der
       > Entstehung der Neuen Linken im Großbritannien der Nachkriegszeit
       
 (IMG) Bild: Stuart Hall 1958 im Partisan Coffee House, Soho, London
       
       Von Jens Kastner
       
       Der einzig nennenswerte Nachteil an diesem Buch ist, dass es zu früh
       aufhört. Stuart Hall lässt den Bericht über sein Leben schon Anfang der
       1960er Jahre enden, als sich seine Bedeutung als Kulturwissenschaftler und
       linker Intellektueller gerade erst abzuzeichnen beginnt. Dieses Ende aber
       hat seine Gründe. Seit dieser Zeit nämlich ergab sich für den wichtigsten
       Stichwortgeber der britischen Cultural Studies die „Möglichkeit, ein
       anderer Mensch zu werden“.
       
       Im noch kolonialen Jamaika aufgewachsen, beschreibt der 1932 geborene Hall
       in seinem autobiografischen Buch einen „Prozess der Entidentifizierung“. Es
       galt, einen Umgang mit der Erfahrung zu finden, kolonisiertes Subjekt zu
       sein. Denn abschütteln lässt sich diese Erfahrung nie. Inwiefern sie das
       Leben Halls ebenso geprägt hat wie sein politisches Engagement und sein
       theoretisches Schaffen, eben davon legt er ein beeindruckendes Zeugnis ab.
       
       Bevor er mit einem Stipendium 1951 nach Oxford geht und erst viel später in
       Birmingham das unter seiner Leitung berühmt gewordene Center for
       Contemporary Cultural Studies leitet, wächst Hall in einer jamaikanischen
       Mittelschichtsfamilie auf. Der erste Teil des Buchs schildert die eigene
       soziale und ethnische Verortung zwischen der weißen Plantagenbesitzerelite
       und den armen Schwarzen in den Vorstädten anhand der Beschreibung von
       Landschaften und Rhythmen, Gerüchen und sozialen Kämpfen.
       
       Dass die Arbeiteraufstände von 1938 die Unabhängigkeit Jamaikas vom
       Britischen Empire einleiteten, die erst 1962 ausgerufen wurde, wird den
       meisten deutschsprachigen LeserInnen sicherlich ebenso wenig geläufig sein
       wie die komplizierte Sozialstruktur der vor allem wohl mit dem Reggae
       assoziierten Karibikinsel. Hall, der sich selbst eher bescheiden als
       „Lehrer“ sah und weniger als Theoretiker, betreibt so tatsächlich
       Geschichtsunterricht.
       
       Er macht zugleich aber auch deutlich, wie sehr seine eigene Herkunft die
       Beschäftigung mit Fragen der Ethnizität und „racial politics“ motiviert
       hat. Es sind zwei sich nur scheinbar widersprechende Feststellungen, die
       Halls gesamte Erzählung über die postkoloniale Situation durchziehen: Zum
       einen betont er stets die Zuschreibungen und Zuweisungen, denen nicht zu
       entkommen sei. Der Kolonialismus habe die Menschen „dazu verurteilt, fehl
       am Platze oder deplatziert zu sein“.
       
       Zum anderen aber hebt er hervor, dass aus dieser Verurteilung keinesfalls
       identitätspolitische Gewissheiten erwachsen können oder sollten. Kollektive
       Identität, insistiert Hall, sei keine Essenz und auch nicht ein für alle
       Mal festgelegt. Identität sei vielmehr „ein sich ständig verändernder
       Prozess der Positionierung“.
       
       Die Umwertung des Wortes „schwarz“ war Teil einer solchen Positionierung.
       Es bekam seine positive Konnotation erst, schreibt Hall, durch die globalen
       Kämpfe gegen den Kolonialismus und die Apartheid, für Bürgerrechte und
       Gleichberechtigung. Und diese sprachliche Aufwertung, daran lässt Hall
       keinen Zweifel, veränderte „die Möglichkeiten des popularen Lebens
       grundlegend“.
       
       Politik bedeutete für Hall allerdings nicht nur Antirassismus und
       Multikulturalismus. Hall gilt auch als wichtiger Vertreter jener Neuen
       Linken, die sich nicht erst 1968, sondern schon 1956 formierte: Die
       Suez-Krise, die Verurteilung der Stalin’schen Verbrechen auf dem 20.
       Parteitag der KPdSU und die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn durch
       sowjetische Truppen in diesem Jahr waren die Anlässe für das Entstehen
       einer undogmatischen linken Strömung. Gegenüber der Polarisierung des
       Kalten Krieges arbeiteten viele Linke an der Herausbildung einer
       „demokratisch sozialistischen Perspektive“.
       
       Dabei ging es unter anderem darum, die Nachkriegskonstellation zu
       verstehen: Zwar lag der Kolonialismus in den letzten Zügen, gleichzeitig
       verlor aber die Arbeiterklasse als formierte Gegenkraft zum Kapitalismus
       massiv an Bedeutung. Auf der Suche nach den Gründen dafür stießen Hall und
       seine MitstreiterInnen auf das Kulturelle. Um zu verstehen, was die
       Menschen antreibt, reichten ihnen ökonomische Analysen nicht mehr aus.
       Kultur als die „sinnstiftende Dimension menschlichen Handelns“ rückte
       gleichberechtigt ins Zentrum der linken Theorie.
       
       Wie dies geschah, wer daran beteiligt war und gegen wen solche Versuche,
       den Marxismus zu erneuern, durchgesetzt werden mussten, schildert Hall
       lebhaft als schwer beteiligter Beobachter. Er war Mitherausgeber der
       Zeitschrift Universities and Left Review (ULR) und 1960 Mitbegründer von
       The New Left Review (NLR). Letztere ist bis heute eines der
       einflussreichsten Zeitschriftenprojekte des undogmatischen Marxismus.
       
       Auch Halls Einfluss auf die undogmatische Linke heute, auf Antirassismus in
       Theorie und Aktivismus, ist ungebrochen. Das liegt schließlich nicht
       zuletzt an seinen Arbeiten im Rahmen der Cultural Studies und an seinem
       Kampf gegen den britischen Neoliberalismus, dem er den Namen Thatcherismus
       gab. Dass diese wichtigen Phasen seines Schaffens im Buch leider nicht mehr
       vorkommen, schmälert den Erkenntnisgewinn allerdings nicht.
       
       Hall lebte mit seiner Frau, der Historikerin Catherine Hall, bis zu seinem
       Tod 2014 in Großbritannien. Nach Jamaika kehrte er nur noch als Besucher
       zurück.
       
       28 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Kastner
       
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