# taz.de -- debatte: Leben ist Leben.Oder? 
       
       > Wenn wir freie Intensivbetten haben, warum fliegen wir dann nicht kranke
       > ItalienerInnen ein? Ein moralphilosophischer Zwischenruf
       
       Aus Italien erreichen uns erschütternde Bilder: Patienten werden
       „triagiert“, also nach behandelbar und sowieso zum Tode verurteilt
       unterschieden, wobei die Letzteren dann sterben gelassen werden.
       Erschütternd ist: Diese Patienten müssten nicht sterben, wenn sie
       entsprechend intensivmedizinisch betreut würden, wozu Italien die
       Kapazitäten fehlen.
       
       Gleichzeitig wird in Deutschland die Kapazitätsfrage beruhigend
       beantwortet: So erklärt Professor Reinhard Busse,
       Gesundheitswissenschaftler an der Technischen Universität Berlin:
       „Insgesamt haben wir in Deutschland etwa 27.000 bis 28.000 Intensivbetten.
       Das sind im Vergleich zu Italien bezogen auf 1.000 Einwohner zweieinhalbmal
       so viele. Wir kommen mit unseren Kapazitäten also gut hin. Auch die
       italienischen Verhältnisse würden uns nicht überlasten.“
       
       Beruhigend, nicht wahr? Aber nicht für den Moralphilosophen. Der muss
       ständig damit aufräumen, dass Moral sich nur auf die erstreckt, die uns
       „near and dear“ sind. Jedenfalls zeigt die Geschichte, dass der Bereich der
       moralisch zu Berücksichtigenden immer größer wird: von den Mitgliedern der
       eigenen Sippe zu den männlichen Bürgern Athens, zu allen Griechen, dann
       seit der Französischen Revolution zu allen Menschen.
       
       Die Gründe dafür sind klar: Erstens ist es reiner Zufall, wann und wo
       jemand geboren wird. Rechte sollten nicht an solchen Zufällen hängen.
       Zweitens: Rechte hängen an den Eigenschaften, Schmerz zu empfinden und
       Wohlergehen erfahren zu wollen, also an den Bedürfnissen. Empfindungslose
       Dinge kann man nicht schädigen. Es liegt ihnen nichts an ihrer Existenz
       oder Unversehrtheit. Mit der Empfindungsfähigkeit beginnen alle Interessen.
       Gleiche Interessen muss man gleich behandeln, sonst handelt man sich
       Widersprüche ein, wenn wir keine relevanten Unterschiede zwischen ihnen
       benennen können.
       
       Italiener, Chinesen und Deutsche sind Menschen, die schon seit der
       Französischen Revolution erst einmal gleich zählen und gleichen Wert haben.
       Das ist Grundlage der Menschenrechte, auf die wir so stolz sind. Ob
       Italiener oder Deutsche sterben, ist – so gesehen – völlig egal, es sollte
       keiner mehr sterben, als unvermeidbar ist. Wenn wir also freie Betten
       haben, dann sollten wir kranke ItalienerInnen einfliegen, die darin
       versorgt werden, wenn dies medizinisch Sinn macht. Oder wir sollten nicht
       benutzte Atemgeräte nach Italien ausleihen, wenn dies medizinisch Sinn
       macht.
       
       Ob das angesichts der langen Dauer, die Corona-Kranke beatmet werden
       müssen, der Fall ist, ob man also in dem Zeitintervall, von heute, wo
       unsere Geräte noch unausgelastet sind, bis zu dem Zeitpunkt, wo alle Geräte
       in Deutschland benötigt werden, Menschen retten kann, das müssen Mediziner
       beantworten. Dass eine positive Antwort möglich ist, zeigen erste
       Einzelfälle französischer Patienten aus dem Elsass, die in Karlsruhe
       aufgenommen werden. Während dies in Einzelfällen praktiziert wird, muss man
       sich aber fragen, ob dies nicht im „größeren Stil“ möglich wäre. Genauso
       sollten wir andersherum Atemschutzmasken etc. nach Deutschland schaffen,
       wenn es in Schweden zum Beispiel mehr als genug davon gäbe. So sollte
       wenigstens ein europäischer, letztlich aber ein globaler Austausch
       organisiert werden. Denn wem ist geholfen, wenn es nach Ende der
       Coronakrise noch Tausende Atemschutzmasken in Schweden gibt? Wir sollten
       Ressourcen so verteilen, dass sie optimalen Nutzen schaffen.
       
       Aber dagegen sprechen ein allgemeiner und ein praktischer Einwand:
       Allgemein gesehen, ist es eben nicht so, dass wir global organisiert sind.
       Das hat auch Vorteile. Jeder weiß vor Ort am Besten, wie die Dinge
       effizient oder gerecht zu organisieren sind. Erfüllt jeder Nationalstaat
       diesen Job, geht es letztlich allen damit besser. Aber dieses Argument ist
       lediglich organisatorischer Art. Man ist sich einig darüber, dass Menschen
       prinzipiell gleich viel wert sind, schlägt aber ein verglichen mit dem
       Globalismus gegebenenfalls besseres Mittel vor, um die Menschen am Besten
       zu schützen: den funktionierenden Nationalstaat. Was aber, wenn dieses
       Mittel eben nicht mehr funktioniert?
       
       Der praktische Einwand lautet: Wenn wir wirklich ItalienerInnen in deutsche
       Betten legen oder Beatmungsgeräte verleihen und der Höhepunkt der Krise bei
       uns schneller einsetzt als erwartet, könnten noch italienische Patienten
       die deutschen Betten oder Maschinen belegen, die dann „für uns“ blockiert
       sind. Gemäß der obigen ethischen Grundsätze könnte man wiederholen: „Ob
       Italiener oder Deutsche sterben, ist völlig egal.“ Aber wir sind nun mal
       national organisiert und deutsche Kassenpatienten haben vielleicht
       vorrangig Anspruch auf deutsche Betten. Zudem ist ein konsequenter
       Universalismus weder durchsetzbar noch durchhaltbar, wie die
       Flüchtlingskrise gezeigt hat. Es führt also kein Weg an einem Kompromiss
       vorbei, der aber internationaler gedacht sein muss als es unser jetziges
       Denken ist. Daher sollten wir gegebenefalls nicht völlig an die Grenzen
       gehen und eine gewisse Anzahl an Betten oder Maschinen als Notfallreserve
       zurückhalten.
       
       Jedenfalls sollte man die Diskussion auf dieser Ebene führen, denn es kann
       nicht sein, dass mit der Wiederkehr der Grenzen auch unsere Moral wieder
       ins antike Griechenland zurückkehrt. Und gerade zu Griechenland sind wir
       eine Antwort schuldig, wie es allein mit der riesigen Ansteckungsgefahr in
       dicht belegten Flüchtlingscamps umgehen soll. Europa gibt derzeit mit dem
       wiederkehrenden Nationalismus ein erbärmliches Bild ab.
       
       Universelles Denken könnte sogar Win-win-Situationen schaffen: Wenn wir den
       Ländern helfen, die auf dem Höhepunkt der Krise sind, würden diese auch uns
       leichter helfen, wenn die Krise bei ihnen bereits wieder abflaut. Das
       könnte etwa geschehen, indem sie bereits von Corona geheilte, immune
       Pflegekräfte anbieten, wenn sie bei uns knapp werden sollten.
       
       24 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernward Gesang
       
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