# taz.de -- „HastwohldeineTage?!“
       
       > Pubertät, Wechseljahre, Morgengeilheit, PMS: Immer wieder scheinen die
       > Hormone die Kontrolle über unser Verhalten zu übernehmen. Aber ist es
       > wirklich so einfach? Nein, natürlich nicht!
       
       Von Nataly Bleuel (Text und Protokolle) und Karoline Löffler (Illustration)
       
       Wir stehen in der Küche, mein Sohn und ich, und vermutlich war mein Ton mal
       wieder verrutscht. Ins Schrille, unter Druck, gereizt. Unschön jedenfalls,
       das wurde mir – wie immer – erst im Nachhinein bewusst. Ich muss etwas mir
       Selbstverständliches wie „Stell den Teller in die Spülmaschine“ oder „Hast
       du an die Hausaufgaben gedacht?“ auf eine Weise kommuniziert haben, die ihm
       missfiel.
       
       Er dreht sein Gesicht weg und sagt: „Hast wohl deine Tage?!“
       
       Vor meinen Recherchen wäre ich umgehend ausgetickt. Sei nicht so frech! Was
       soll das?! Ich hätte mich torpediert gefühlt. Ja, auch erkannt. Vor allem
       aber: nicht ernst genommen. Lächerlich!
       
       Doch seit ich mich mit den Hormonen beschäftige und den Bedeutungen, die
       wir ihnen zuschreiben, verstehe ich diese Stimmungsschwankungen besser.
       
       So oft habe ich sie zu verdrängen versucht, dass es mich irgendwann fuchsig
       und wissbegierig machte. Ich beschloss, meine (Ver-)Stimmungen durchschauen
       zu lernen. Sie sind, das ahne ich mittlerweile, ein im Leben vieler
       Menschen wiederkehrender Zustand. Und sie haben eine meist ähnliche
       (Ab-)Folge. Wie ein Reiz-Reaktions-Schema, ein hormonelles. Aber eines
       zwischen den Menschen. Es betrifft ihre Interaktion, ihren Alltag, ihre
       Beziehungen, ihr Selbstbild und ihr Fremdbild – und somit ihre Kultur und
       ihre Weltsicht.
       
       Hormone machen Gesellschaft. Oder gibt die Gesellschaft den Hormonen durch
       ihre Zuschreibungen erst eine Bedeutung, die sie für sich genommen
       vielleicht gar nicht haben? Jedenfalls nicht so eindeutig und
       einschränkend, sondern vielfältiger, komplexer, diverser? Macht also auch
       die Gesellschaft Hormone? Welche Rolle spielen sie wirklich?
       
       Bei einer hormonellen (Ver-)Stimmung ist man im Kopf wie vernebelt. Ist der
       Körper nicht voll unter Kontrolle. Gehorchen Stimme, Hirn, Haut, Blick,
       Atem nicht mehr ganz. Und dann stellen sich – zu allem Überfluss, da man
       sich eigentlich vor der Welt verkriechen möchte – Wallungen ein:
       Gereiztheit, man möchte aus der Haut fahren; Traurigkeit, einen Grund zum
       Weinen findet man immer; Erschöpfung, totale Erschöpfung, Zorn und, wenn es
       gut läuft, Euphorie, himmelhoch jauchzend, vollkommen verstrahlt.
       
       Diese (Ver-)Stimmungen sind aber nicht nur deshalb Schlüsselreize, weil man
       darin reizbar ist. Sie sind sogar Schlüsselfiguren. Weil sie begleitet
       werden von einer in sich geradezu zwanghaften Gedankenabfolge. Die geht so:
       Ich bin neben der Spur. Ich kann mich gerade selbst nicht ausstehen. Aber
       es ist jetzt mal so. Vielleicht auch okay, man kann ja nicht immer
       funktionieren.
       
       Doch wehe, ein Außenstehender hält mir jetzt den Zerrspiegel vor und
       reduziert mich auf ein deterministisches Phänomen wie PMS, Wechseljahre,
       Schilddrüsenunterfunktion. Pubertät, Testosteronüberschuss. In diesem
       Zustand will man ernst genommen werden – sogar wenn einem selbst nicht
       danach ist. Keiner soll dann sagen: Hast wohl deine Tage?!
       
       Weil es mich demütigt. Weil es mich zu einem triebgesteuerten,
       hirnverbrannten, nicht zurechnungsfähigen Wesen degradiert. Ich bin aber
       keine hysterische, hormongesteuerte Zicke, der man die volle Teilhabe am
       gesellschaftlichen Leben absprechen darf; mein jugendlicher Sohn ist kein
       blödes Pubertier, dessen rebellische Kraft man ins Lächerliche ziehen muss;
       und der Mann: nicht nur schwanzgesteuert.
       
       Und jetzt kommt der Dreh: Wenn die hormonelle Verstimmung vorbei ist, tippe
       ich mir selbst an die Stirn, denn mit einem Schlag wird mir klar: War doch
       nur PMS, die Pubertät, das Testosteron. Das ist verrückt! Total paradox!
       
       Hinter Paradoxien stecken ja meist interessante Knackpunkte des
       menschlichen Zusammenlebens, Tabus zum Beispiel. Und im Fall der
       (Sexual-)Hormone steckt dahinter eine Verwirrung von Innen und Außen, von
       Körper und Konnotation, von Selbstbild und Fremdbild, von Natur und Kultur.
       
       Ein Hormon ist ein Botenstoff, ein biochemischer. Im Körper vermittelt er
       Informationen. Das Hormonsystem ist, wie das Nervensystem, ein
       Kommunikationssystem. Zellen in Hormondrüsen sondern Sekrete ab, die, übers
       Blut transportiert, andernorts an speziellen Zellrezeptoren andocken.
       Hormone regulieren im Körper Wachstum, Ernährung, Atmung, Stoffwechsel,
       Blutdruck, Salz- und Wasserhaushalt, Sexualfunktionen, Schwangerschaft,
       Geburt, Wachen und Schlafen und den Appetit. Ohne das Zusammenspiel von
       Insulin, Adrenalin, Serotonin, Cortisol, Thyroxin, Dopamin, Melatonin,
       Calcitriol, Testosteron, Östrogen und weiteren Hunderten von Hormonen kann
       kein Mensch überleben.
       
       Wir ahnen das irgendwie. Obwohl nicht mal Endokrinolog*innen alles über
       die sekündlich 100 Billionen Stoffwechselvorgänge im Körper wissen. Und wir
       tun es im Alltag oft so ab, als wären wir gesteuert von den Hormonen,
       ferngesteuert. Als hätten wir keinerlei Einfluss auf unser Empfinden und
       unser Verhalten. Als wären unsere Körper von der Umwelt abgeschlossene
       Maschinen mit einer oder mehreren Schaltzentralen, im Hirn, in den Genen,
       in den Drüsen – die alles regeln, und zwar Top-down.
       
       Ein Körper kommuniziert mit der Welt, in der er lebt. Das klingt banal.
       Doch die Erkenntnis scheint ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein,
       seit wir uns begeistern an allem, was in oft körperlosen Maschinenräumen zu
       stecken scheint: Rechenmaschinen wie Computern, der Entdeckung des Gehirns,
       der Entschlüsselung des Genoms. Dazu kommt die unglaubliche Rasanz, mit der
       sich das medizinische Wissen vermehrt. In der wissenschaftlichen Datenbank
       Pubmed findet man unter dem Stichwort „Hormone“, Stand 18. Februar 2020,
       1.555.076 Studien.
       
       Wenn eine Medizinstudentin ihre Arbeit als Ärztin aufnimmt, kennt sie
       ungefähr 6 Prozent des gegenwärtigen medizinischen Wissens – und das
       verdoppelt sich je nach Studie in 75 oder 700 Tagen oder 5 Jahren.
       Jedenfalls so schnell, dass jede weise Wissenschaftler*in wie Platon
       weiß, dass sie nichts weiß.
       
       Doch das passt uns gerade nicht so. Wir wollen einfache Antworten. Weil die
       Welt anscheinend zu vielfältig ist, auch ein bisschen paradox. Und statt zu
       staunen, wie komplex der Körper ist und wie unterschiedlich die Menschen
       sind, und gerade deswegen weiter zu fragen, repetieren nicht wenige
       mantramäßig die ewig gleichen bescheuerten Antworten und Diskurse: Frauen
       von der Venus, Männer vom Mars, Mario mit Bart und alle anderen raus hier.
       
       Hauptsache, hier Weiß und da Schwarz, hier oben und da unten: unten. Und da
       unten in den Eierstöcken Östrogen, und da drüben in den Hoden Testosteron.
       Stimmt aber so ausschließlich auch nicht. Das kann man anhand von Studien
       belegen, und einige Forscher*innen tun dies, unter anderem die in dem
       weltweiten Neurogenderings Network.
       
       Dazu gehört auch die britische Psychologin Cordelia Fine, die in ihrem Buch
       „Testosterone Rex. Myths of Sex, Science and Society“ eine provokante These
       aufstellt: „Testikel sind auch nur ein soziales Konstrukt.“ Auch der
       Neurobiologe Richard Francis sagt, soziale Konstellationen würden die
       geschlechtlichen Konstellationen regulieren.
       
       Beispiel Testosteron. Es ist wie die Östrogene ein Sexualhormon, und es
       reguliert Muskel- und Haarwachstum, die Ausbildung der Geschlechtsorgane
       und ein paar andere Prozesse – auch im Gehirn. Da hilft das Testosteron,
       neue neuronale Wege auszubilden, indem es sich mit Nervenzellen verbindet
       und deren Eiweißproduktion verändert, auch Genexpression genannt, wodurch
       sich das Testosteron mitunter in Östrogen verwandelt.
       
       Östrogen kann aber auch vom Gehirn hergestellt werden und in Bauchfett und
       in den Eierstöcken. Es stößt allerhand Prozesse an, bei allen
       Geschlechtern. Wobei Männer zehnmal so viel Testosteron haben wie Frauen.
       Aber beide morgens am meisten, weshalb da oft auch die Lust am größten ist.
       Auf jemanden, der oder die unter Umständen lecker neben einem liegt und die
       Fantasie und die Hormone triggert.
       
       Denn Hormone, sagt die vergleichende neuroendokrinologische
       Verhaltensforscherin Elizabeth Adkins-Regan, lösen nicht ein bestimmtes
       Verhalten aus, sondern machten „eine bestimmte Reaktion auf einen Anlass
       wahrscheinlicher“. Und zwar auf einen körperlichen, sozialen oder auch
       entwicklungsbedingten. Der Mensch, Pardon, Mann, ist nach Meinung einiger
       Forscher*innen also nicht testosterongetrieben, sondern sein Testosteron
       wird durch vielfältige Auslöser angeregt. Und treibt dann auch individuell
       unterschiedlichen Blüten.
       
       Beweise? Voilà: die Väterstudien. In groß angelegten Langzeitstudien auf
       den Philippinen fand der Neurosoziologe Lee Gettler heraus, dass
       Vaterschaft das Testosteronlevel bei Männern reduzierte, und zwar desto
       mehr, je mehr sie sich eng mit den Kindern beschäftigten. Jedoch war es
       nicht so, dass Männer mit einem niedrigen Testosteronlevel sich ihren
       Kindern automatisch ausgiebiger widmeten.
       
       Eine weitere Studie, durchgeführt von der Verhaltens-Neuroendokrinologin
       Sari van Anders, mit schreienden Babypuppen und drei zufällig
       zusammengewürfelten Gruppen von Männern: Der ersten Gruppe wurde gesagt,
       sie stelle den traditionellen Typ Vater dar, der es der Mutter überlässt,
       sich um das Baby zu kümmern; sie sollten dasitzen und das Kind schreien
       lassen. Auch die zweite Gruppe sollte einen traditionellen Vater
       verkörpern, der aber ranmuss, weil die Mutter gerade verhindert ist. Die
       dritte Gruppe stand für progressive Väter, die den Umgang mit Babys gewöhnt
       sind.
       
       Nach dem Babytest wurde das Testosteronlevel der Männer gemessen – die,
       noch mal, gar nicht unbedingt dem Typus Vater entsprachen, den sie
       darstellen sollten! Sondern sie fügten sich in die Rolle, die sie in diesem
       Experiment gegenüber dem Kind zugewiesen bekamen. Ein Als-ob.
       
       Ergebnis: Bei den progressiven Vätern sank der Testosteronspiegel, sobald
       sie das Kind beruhigen konnten. Bei den Männern, die traditionelle Väter
       spielen sollten und denen es nicht gelang, das darauf programmierte Baby zu
       beruhigen, stieg er; und ganz besonders bei denjenigen, die nichts tun
       durften, während das Kind weiter schrie. Ergo: Der gleiche Reiz – ein
       schreiendes Kind – beeinflusste den Testosteronspiegel unterschiedlich. Und
       zwar abhängig davon, wie sehr sich ein Mensch imstande fühlt, sich in der
       Interaktion mit einem anderen zu verhalten.
       
       Der Hormonspiegel steigt also diesen Studien zufolge als Reaktion auf
       Rolle, Zuschreibung, Erwartung und Selbstverständnis. Nicht umgekehrt nach
       dem Motto: Angemessenes Verhalten ist nicht möglich, weil der Mann zu
       testosterongesteuert ist. Die Hormone bestimmen also nicht nur unser
       Verhalten, sie entstehen umgekehrt auch selbst in Reaktion auf Fremdbild,
       Selbstbild, Weltbild.
       
       Wird geschlechtsspezifisches Verhalten also noch viel weniger von
       physiologischen Prämissen bestimmt, als bislang angenommen wurde? Diese
       These könnte zu einem Paradigmenwechsel in der Naturwissenschaft führen.
       Die kanadische Hirnforscherin Sari van Anders geht da mit ihren Studien
       voran, und es folgen all jene Wissenschaftler*innen, die Neurologie,
       Endokrinologie, Immunologie, Psychologie und Soziologie miteinander
       verbinden – und damit so neue Wege gehen, dass ihre akademischen
       Qualifikationen im Deutschen mit kaum übersetzbaren Wortungetümen
       bezeichnet werden.
       
       Denn die Neuropsychoendokrinologie kehrt sich ab von dem Glauben, nur das
       Hirn oder nur die Gene oder die Hormone und damit vorwiegend die Evolution
       würden die Identität und das Verhalten eines Menschen bestimmen. Das
       bedeutet: Man betrachtet den Menschen von verschiedenen Disziplinen aus,
       individueller und mit mehr Offenheit für komplexe Zusammenhänge. Man
       hinterfragt Stereotype. Auch die eigenen, „wissenschaftlichen“. Sodass
       andere Fragestellungen entstehen, Studien und Studiendesigns. Die dann eben
       auch zu anderen Ergebnissen gelangen, siehe Väterstudien.
       
       In einer weiteren Studie wurden Schauspielerinnen und Schauspieler
       angewiesen, ein*e Chef*in zu spielen, der oder die gerade eine*n
       Angestellte*n feuert. Wichtig auch hier, wie die einem zugewiesene Rolle
       und die dazugehörende Erwartung das Verhalten beeinflusst. Und dann auch
       die Hormone. Ergebnis: Der Testosteronspiegel stieg. Und zwar bei den
       Schauspielerinnen sehr viel mehr als bei den Schauspielern. Weil die Frauen
       ihr Verhalten für „männlich“ hielten?
       
       Funktionieren Hormone also wie Verstärker? Das hat man anhand des
       sogenannten Ultimatum-Spiels untersucht. Bei dieser Versuchsanordnung
       sitzen sich zwei Probandinnen anonym an Computern gegenüber. Die eine
       erhält einen Betrag, den sie mit der anderen teilen muss. Sie darf sagen,
       wie geteilt werden soll, gerecht oder ungerecht. Ihr Gegenüber kann den
       Vorschlag ablehnen, dann gehen beide leer aus.
       
       Den Frauen wurde außerdem gesagt, dass einige von ihnen eine Tablette mit
       einer Dosis von 0,5 Milligramm Testosteron bekämen, wodurch die
       Konzentration des Hormons im Blut auf das 10-fache steige. Die anderen
       bekämen eine gleich aussehende Tablette, die jedoch ohne Wirkung sei. Nach
       dem Spiel wurden alle Teilnehmerinnen gefragt, ob sie glaubten, das Hormon
       oder ein Placebo erhalten zu haben.
       
       Ergebnis: Diejenigen, die glaubten, Testosteron eingenommen zu haben,
       hatten unfairere Angebote gemacht als jene, die glaubten, ein Placebo
       bekommen zu haben – unabhängig davon, ob sie nun einen erhöhten
       Testosteronspiegel hatten oder nicht. Die Studie bestätigte also das dem
       Klischee entsprechende (Dominanz-)Verhalten beziehungsweise zeigte, dass
       das Verhalten davon abhängt, welche Rolle man zu spielen glaubt:
       testosterongesteuert oder nicht testosterongesteuert.
       
       Und nun die Überraschung: Das tatsächliche Verhalten war diametral
       entgegengesetzt zum erwarteten, denn die Frauen, die tatsächlich einen
       erhöhten Testosteronspiegel aufwiesen, hatten gerechtere Angebote gemacht
       als die mit normalem Testosteronspiegel. Vielleicht weil „männliches“,
       testosterongetriebenes Verhalten auch positive Seiten haben kann, etwa die,
       fürsorglich, beschützend und sogar gerecht zu sein?
       
       Noch eine Frage: Gibt es einen Mutterinstinkt, oder ist die Behauptung,
       dass Frauen eine natürliche, von dem Hormon Oxytocin ausgelöste Anlage
       hätten, Kinder großzuziehen, eine gesellschaftliche Konstruktion? Die
       Metawissenschaftlerin Odile Fillod stellte vor einigen Jahren fest: Die
       Argumente für einen Oxytocin-gesteuerten Mutterinstinkt gehen alle auf die
       Arbeiten einer einzigen Primatenforscherin zurück, Sarah Blaffer Hrdy hatte
       in den 1970er Jahren an Affen, jedoch nie an Menschen geforscht. Keines
       ihrer viel zitierten Ergebnisse konnte im Labor reproduziert werden – weder
       bei Affen, noch bei Mäusen.
       
       Auch der Neurowissenschaftler Gideon Nave kam in einer Metastudie zu dem
       Schluss, dass ein Großteil der Oxytocin-Studien den wissenschaftlichen
       Ansprüchen nicht genügt. Die Studiendesigns seien schlecht und schlampig
       gemacht gewesen und wissenschaftlichen Standards nicht angemessen genug, um
       irgendetwas beweisen zu können. Die wenigsten konnten wiederholt und
       verifiziert werden.
       
       Studien jedoch, die zeigten, dass Oxytocin das Verhalten von Menschen nicht
       beeinflusst, wurden gar nicht erst veröffentlicht. „Es ist eben eine super
       Geschichte“, sagt Nave, „dass ein und dasselbe Hormon Wühlmäuse monogam
       macht, Milcheinschuss und Geburt beeinflusst und einen dazu bringt, Fremden
       Geld zu schenken.“
       
       Wir nennen Oxytocin „Kuschelhormon“. Wir veröffentlichen gern Studien, die
       simpel und sensationell klingen. Und wir glauben gern, dass Mäuse, Menschen
       und Buntbarsche sich so ähneln, dass unser aller Verhalten übertragbar
       wäre. Die Medien – also Menschen, die etwas vermitteln, erklären und
       berichten wollen – picken sich gern Studien heraus, die mit sensationellen
       oder schillernden Ergebnissen aufwarten. Studien, die die
       Glaubensvorstellungen ihrer Leser*innen belegen, denn nicht wenige
       Medienmacher*innen glauben, sie müssten ihrer Leserschaft schmeicheln,
       indem sie sie in ihrer Meinung bestätigen.
       
       Seltener zitiert werden komplexe Studien, die nicht eindeutig belegen, was
       man schon immer gern glauben wollte. Und womit man kein so gutes Geschäft
       machen kann, auch Pharmafirmen nicht.
       
       Ein anderes Beispiel ist die Behauptung, Mädchen und Jungen hätten von
       Geburt an unterschiedliche Vorlieben, was am Testosteron im Mutterleib
       liege. Der meistzitierte vermeintliche Beweis dafür, dass
       geschlechtsspezifisches Verhalten angeboren sei, stammt von der Uni
       Cambridge. Am Lehrstuhl für Psychologie haben Simon Baron-Cohen und seine
       Doktorandin mit einer Studie an Neugeborenen 2005 bewiesen: Säuglinge
       handeln nur wenige Tage nach der Geburt eindeutig „männlich“ oder
       „weiblich“. Die Ursache dafür müsse biologisch sein.
       
       Das pränatale Testosteron, das bei Föten zur Ausbildung von Hoden führt,
       sei der Grund, warum die männlichen Säuglinge sich bei Vorlage eines Bildes
       für das Auto entschieden und die weiblichen ihren Blick länger auf
       Gesichtern verweilen ließen. Daher könnten Jungen besser räumlich sehen,
       während bei Mädchen andere Gehirnregionen stärker ausprägt seien und sie so
       einen Hang zu Kommunikation und Sozialem entwickelten.
       
       Die Psychologin Cordelia Fine sah sich die Studie noch einmal an und
       stellte fest: Sie hielt wissenschaftlichen Standards nicht stand. Die
       Proband*innenzahl war zu klein, um aussagekräftig zu sein; die Autorin der
       Studie hatte sämtliche Experimente selbst durchgeführt, sie wusste um das
       Geschlecht des jeweiligen Säuglings, die Studie war also nicht
       „doppelblind“ für Proband*innen wie Forscher*in.
       
       Und obwohl der Ausgang denkbar uneindeutig und knapp war, veröffentlichte
       die Universität die Studie als ultimativen Beweis. Als solcher gilt sie
       weiterhin. Sie wurde nie reproduziert. Und die Fragestellung war nicht
       offen, sondern darauf angelegt, zu beweisen, dass es diese Unterschiede
       gibt. Man nennt das Scientific Bias. Bias für: Verzerrung, Tendenz,
       Vorurteil.
       
       „Die Wissenschaft lässt uns glauben“, schrieb die Medizinwissenschaftlerin
       Nelly Oudshoorn 2002, „Wahrheitsansprüche seien grundsätzlich unabhängig
       von irgendwelchen sozialen Zusammenhängen.“ Sind sie aber nicht – auch
       nicht in den Naturwissenschaften. Und deswegen gilt es, die Wissenschaft
       selbst zu hinterfragen. Das tun unter anderen Metawissenschaftler*innen,
       sie sind nicht immer Naturwissenschaftler*innen, und sie dekonstruieren
       und analysieren, wie bestimmte an Macht gekoppelte Diskurse den Körper
       jedes und jeder Einzelnen beherrschen können.
       
       Früher nannte man das öfter Diskursanalyse, und die betrieben so
       unterschiedliche Menschen wie: der Philosoph Michel Foucault („Die Ordnung
       des Diskurses“, 1970), die Denkerin Susan Sontag („Krankheit als Metapher“,
       1978), die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun („Nicht ich: Logik,
       Lüge, Libido“, 1985), die Soziologin Gerburg Treusch-Dieter („Von der
       sexuellen Rebellion zur Gen- und Reproduktionstechnologie“, 1990), die
       Medizinhistorikerin Barbara Duden („Der Frauenleib als öffentlicher Ort“,
       1991) oder kürzlich die Schriftstellerin Siri Hustvedt („Die Illusion der
       Gewissheit“, 2018).
       
       Diese Diskursanalyse ist ein nützliches Werkzeug, um Strukturen und
       Stereotype zu durchschauen – die dem Ich Möglichkeiten, Freiheiten und
       Spielräume rauben, in so wunderbar vielfältigen Systemen, wie die Welt
       eines ist, die Natur, die Menschen und die Hormone.
       
       Ich weiß jetzt also, aufgrund der Beobachtungen und Recherchen über Hormone
       und der frechen Herausforderung zum Trotz, dass nicht nur Frauen Hormone
       haben. Sondern auch Männer. Mäuse. Und Minderjährige. Und dass wir alle mal
       mehr und mal weniger darunter leiden. Und zwar unter den mehr oder weniger
       puren physiologischen Stimmungen. Aber ebenso und vielleicht sogar noch
       viel mehr unter den Zuschreibungen von außen. Beides kann sich dann zu
       einer explosiven Mischung verdichten, in der sich Selbstbild und Fremdbild
       verheerend verheddern.
       
       Mein 16-jähriger Sohn weiß das mittlerweile auch. Er ist jetzt öfter mal
       voll daneben, verpeilt, verstrahlt, verknallt oder verpickelt. Wir sind
       gerade beide in den Wechseljahren.
       
       Ich lächle ihn an und antworte auf die Frage mit dem Subtext, ob ich
       hysterische Zicke hormonell bedingt nicht ganz zurechnungsfähig sei:
       „Vielleicht … Aber du weißt ja, wie das ist: Du hast ja jetzt auch manchmal
       deine Tage!“ Beim ersten Mal war er entsetzt. Ich, junger Mann? Meine Tage?
       Aber kürzlich hat er sogar mal genickt. Alles nur eine Frage der
       Zuschreibungen und Gewohnheiten.
       
       Nataly Bleuel, 52, hat gerade das Buch „Das sind die Hormone. Wie sie uns
       durchs Leben dirigieren, wie sie Stimmung machen und wie wir damit umgehen“
       bei C. Bertelsmann veröffentlicht.
       
       * Die Autorin hat mit vielen Frauen und Männern Gespräche über die Hormone
       geführt und auf deren Wunsch Namen, Herkunft und Berufe anonymisiert.
       
       14 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nataly Bleuel
       
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