# taz.de -- Türkei entsendet Militär nach Libyen: Was erwartet die Türkei in Libyen?
       
       > Das türkische Parlament hat zugestimmt, Soldaten nach Libyen zu schicken.
       > Wir haben den Politologen Hakan Güneş nach den Hintergründen und Folgen
       > gefragt.
       
 (IMG) Bild: Dass die Türkei im Mittelmeer eingeengt werde, sei Propaganda, sagt der Politologe Hakan Güneş
       
       Taz.gazete: Herr Güneş, am Donnerstag hat das türkische Parlament
       beschlossen, Soldaten nach Libyen zu schicken, um die Interessen der Türkei
       in Libyen zu wahren. Was genau sind die Interessen der türkischen Regierung
       in Libyen? 
       
       Hakan Güneş: Die Regierung denkt, dass sie im östlichen Mittelmeerraum
       eingeengt und davon abgehalten wird, von den natürlichen Ressourcen zu
       profitieren. Sie argumentiert, dass sich Israel, Ägypten und Zypern
       verbündet haben und dabei von den USA und der EU unterstützt werden. Um
       sich dagegenzustellen, hat die Türkei ein Abkommen mit Libyen (über eine
       gemeinsame Seegrenze im Mittelmeer, Anm.d.Red.) geschlossen. Um dieses
       Abkommen zu wahren, sagt die türkische Regierung nun, dass sie die
       Regierung in Tripolis unterstützen müsse. Die Türkei stützt die Entsendung
       von Soldaten nach Libyen auf diese Interessen. Ich sehe das jedoch anders.
       
       Einige Länder haben auf das Abkommen, das die Türkei und Libyen im November
       unterzeichnet hatten, negativ reagiert. Die Türkei hat wiederum das
       Übereinkommen zwischen Israel, Griechenland und Zypern vom Donnerstag
       scharf kritisiert. Kann man wirklich behaupten, dass es in dem
       Parlamentsbeschluss nicht um die Erdgasvorkommen im östlichen
       Mittelmeerraum geht? 
       
       Das kann man durchaus behaupten. Ägypten, Israel und Zypern fördern in
       ihren eigenen Hoheitsgebieten Erdgas und wollen es nach Europa leiten. Das
       geht niemanden was an. Wenn ein Land daraus ein Problem macht, dann steht
       wahrscheinlich eine konkrete politische Absicht dahinter. Das Gas befindet
       sich auf israelischem Gebiet. Die Türkei erzeugt also ein Problem aus Gas,
       dessen Anrechte eigentlich geklärt sind und das nach Europa verkauft werden
       soll. Meiner Meinung nach ist das eine Verfehlung. Die Türkei hat kein
       Recht, sich da politisch einzumischen.
       
       Worauf zielt dann der Beschluss, der die Entsendung von Militär nach Libyen
       vorsieht? 
       
       Die Türkei will sich wie Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien,
       Russland, USA und andere Akteure den Zugang zu Öl- und Gasquellen sichern
       und somit auch ihren Einfluss auf dieses Land vergrößern, das sehr reich an
       natürlichen Ressourcen ist. Eigentlich ist es ein kolonialer Kampf um
       Ressourcen. Ich würde das als eine Besetzung Libyens durch die Türkei
       bezeichnen. Im September 2011 ist Erdoğan nach Ägypten und Libyen gereist.
       Damals befand sich Gaddafi noch auf der Flucht und wurde gesucht. Erdoğan
       hatte durch Kontakte zur Muslimbruderschaft Verbindungen in Libyen. Dort
       sagte er damals: “Wir haben es nicht wie der Westen auf die Bodenschätze
       abgesehen.“ Doch seine Delegation bestand aus zahlreichen Geschäftsleuten
       und auch der Minister für Energie und Rohstoffe sowie der Handelsminister
       waren dabei. Auch wenn die Türkei etwas anderes behauptet, versucht sie den
       westlichen Weg einzuschlagen. Sie ist genauso schuldig oder unschuldig wie
       die anderen Akteure. Doch während andere Länder gut damit zurechtkommen,
       mit beiden Seiten der gespaltenen Regierung die Beziehungen
       aufrechtzuerhalten, steht die Türkei der islamischen Seite näher und
       unterstützt die Regierung von Fajis al-Sarradsch. Wir sehen hier eine
       Version des neoosmanischen Traumes, gestützt durch die
       Glaubensgenossenschaft.
       
       Ist die Sarradsch-Regierung nicht diejenige, die von den Vereinten Nationen
       anerkannt ist? Warum haben sich die anderen Akteure Haftar zugewandt oder
       stehen zwischen den Fronten? Was hat sich verändert?
       
       Legitim und von den UN anerkannt ist das libysche Parlament. Dieses
       Parlament hat Haftar zum Generalstabschef ernannt und Sarradsch ist
       Ministerpräsident. Jedoch ist das Parlament gespalten. Ein Teil tagt in
       Tobruk und unterstützt Haftar, während ein anderer Teil in Tripolis tagt
       und hinter Sarradsch steht. Mit der Zeit haben viele westliche Länder – mit
       Ausnahmen wie etwa Deutschland – begonnen, Haftar zu unterstützen, hinter
       dem auch Saudi-Arabien und Ägypten stehen. Im vergangenen Jahr hat
       Frankreich durch seinen Seitenwechsel das Gleichgewicht ins Wanken gebracht
       und hat auch damit begonnen, Haftar Waffen zu schicken. Schließlich hat
       sich die Türkei eingemischt, da Tripolis, das letzte Einflussgebiet von
       Sarradsch, durch die russische Unterstützung gefährdet ist. Militär zu
       entsenden ist eine risikoreiche und radikale Entscheidung.
       
       Was für Risiken meinen Sie? Wem steht die Türkei mit diesem Beschluss
       gegenüber? 
       
       Zuallererst ist da das Bündnis zwischen Ägypten und Saudi-Arabien. Und
       danach kommt gleich Frankreich. Zum anderen stand Haftar in der
       Vergangenheit den USA nahe. Die mischen sich allerdings nicht ein. Auch mit
       einem Sturz von Sarradsch wäre das Problem nicht erledigt, da weiterhin die
       beidseitigen Beziehungen aufrechterhalten werden können. Genau wie Russland
       es macht.
       
       Erdoğan und Putin werden sich am 8. Januar treffen. Welche Ergebnisse
       erwarten Sie von diesem Treffen? 
       
       Libyen ist für Russland genau wie viele andere Regionen im Nahen und
       Mittleren Osten vor allem Mittel zum Zweck für Verhandlungen mit dem
       Westen. Russland will seine wirtschaftlichen Interessen sichern, aber das
       wäre sowohl mit Haftar als auch mit Sarradsch möglich. Russland versucht,
       die Türkei von der Nato und ihren Beziehungen zum Westen zu entfernen. Das
       heißt, wenn die Türkei in dieser Region einmarschiert, wird die Reaktion
       von Russland eher schwach ausfallen. Denn das würde die Beziehungen
       zwischen der Türkei und den westlichen Ländern, vor allem Frankreich,
       negativ beeinflussen. Zumindest ist das eine Gleichung, die Russland sich
       wünscht.
       
       Wird die türkische Öffentlichkeit diese Entscheidung mittragen? Den Einsatz
       in Syrien versuchten die Regierung und die Medien als „Terroroperation“ zu
       rechtfertigen. Worauf werden sie sich diesmal berufen? 
       
       “Die Türkei bleibt außen vor, wird abgehängt und in die Ecke getrieben …“
       Auch wenn solche Aussagen gelogen sind und nur der Propaganda dienen,
       finden sie sowohl im rechten als auch im linken Spektrum viele Anhänger.
       Erdoğan verliert zunehmend vor allem unter den jungen Leuten an
       Unterstützung, auch wenn es ihm noch gelingt, genug Stimmen zu bekommen.
       Deshalb braucht er eine Art von Nationalismus. Dafür werden diese
       nationalen Interessen erzeugt.
       
       Die Türkei hat einige Erfahrungen im Stellvertreterkrieg in Syrien
       gesammelt. Jetzt werden die Kämpfer aus Idlib abgezogen und nach Libyen
       geschickt. Was für Folgen wird das haben? 
       
       Die Türkei hat bemerkt, dass ihr Einfluss in Syrien begrenzt ist, und
       versucht nun, die ihr nahestehenden Kräfte nach Libyen zu versetzen.
       Zurzeit befinden sich dort aber sehr wenige Soldaten, der Krieg wird über
       Drohnen geführt. Es gibt eine Pattsituation. Diese Einmischung könnte der
       Sarradsch-Regierung helfen, Tripolis zu halten. Die türkische
       Militäroperation hat nicht die Absicht, das Land einzunehmen. Ziel der
       Türkei ist es, Sarradsch zu halten und eine wichtige Rolle bei zukünftigen
       Verhandlungen zu spielen. Mehr kann ich mir nicht vorstellen. Schon so ist
       das ein sehr risikoreiches Unterfangen. Wenn nicht einer der wichtigen
       europäischen Akteure die Türkei scharf kritisiert, könnte die Türkei diesem
       Krieg eine andere Wendung geben.
       
       Zurzeit steht eine harte Reaktion des Westens noch aus. Diesen Monat soll
       in Berlin eine Libyen-Konferenz unter deutscher Führung stattfinden. Welche
       Position bezieht Deutschland eigentlich? 
       
       Deutschland verfolgt eine ausgeglichenere Politik. Als letztes Jahr
       Frankreich begonnen hat, Haftar zu unterstützen, war Deutschland nicht
       erfreut. Die Bundesregierung lehnt ab, dass nur ein Land Einfluss auf die
       libyschen Ressourcen hat. Die Art der türkischen Einmischung scheint zu
       einer Entscheidung über den Fortbestand oder Fall von Tripolis zu führen.
       
       Im Beschlusstext des türkischen Parlaments wird auch “illegale Migration
       und Menschenhandel“ erwähnt. Allerdings besteht zwischen der libyschen
       Migration und der Türkei keine wirkliche Verbindung. Könnte es sein, dass
       damit die Unterstützung der europäischen Länder gewonnen werden soll? 
       
       Genau so ist es. Das ist vor allem ein heikles Thema für Italien und
       Deutschland. Vermutlich sollte deshalb der Beschlusstext auch eine
       Nachricht an die internationale Gemeinschaft enthalten.
       
       Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
       
       6 Jan 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ali Çelikkan
       
       ## TAGS
       
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Politik
 (DIR) Schwerpunkt Konflikt zwischen USA und Iran
 (DIR) Libyen
 (DIR) taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Putins Politik im Nahen Osten: Merkel setzt auf Russland
       
       In der Krise zwischen Iran und USA reist die Bundeskanzlerin am Samstag
       nach Moskau. Sie hofft auf Putin als Stabilisierer der Region.
       
 (DIR) Krieg in Libyen: Waffenruhe soll kommen
       
       Die Türkei und Russland setzen sich für einen Waffenstillstand ein. Gelten
       soll er ab Sonntag. Die EU kündigt eine Libyen-Konferenz an.