# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Astrid KaminskiundSeda Niğbolu: Die Entdeckung unsrer eigenen Ignoranz und vieler neuer Wir
       
       T4. Tiergartenstraße 4. Ein neues Wohnprojekt? Eher eine Adresse, die
       Wohnen unmöglich machte. Und wir, zwei eingebildete Sensibilisierte, müssen
       krasserweise sagen: Wir haben von nichts gewusst. Wir wissen es erst seit
       der Talkshow „Life (un)worthy of life“ am letzten Wochenende beim Festival
       „No Limits“. „Keine Zeitzeugen“, sagte Show-Gast Kenny Fries in Bezug auf
       das Kapitel „Euthanasie“. Nicht „keine Zeitzeugen mehr“. Das heißt, sie
       sind nicht weggestorben. Es hat sie nie gegeben. Keine Überlebenden. T4
       steht für die Bürokratie des Mordes im Nationalsozialismus. Weitgehend
       unsichtbar gemacht im Bildungswesen.
       
       Wir waren, wie ihr alle, liebe Hoffentlichleser*innen, hier und dort. Haben
       insgesamt 20 Schulen und Unis in vier Ländern besucht, die meisten in
       Deutschland. Irgendwann einen Verdacht gehegt. Ein Gefühl, wie es ist, auf
       Kosten anderer privilegiert zu sein. Auf Kosten anderer nichts zu sehen.
       Das ist eine unserer Schnittmengen, unser Wir. Und gerade reden wir und
       reden und schreiben uns, während wir 10 Tage lang das „No Limits –
       Disability & Performing Arts Festival“ besuchen, täglich und entdecken noch
       andere Wirs.
       
       Das Wir von Erfahrungen, die wir nie gemacht haben, unsere Zweifel an
       empowerment, an Talkshows, unser Dilemma, die richtigen Worte zu finden,
       die Faszination über die Diskretion von Applaus, die fehlende
       Patti-Smith-Sozialisation, die Spitzenposition in unserer to-read-Liste
       (Gabor Maté). Das Wir von zwei Frauen ohne sichtbare Behinderung. Das Wort
       „sichtbar“. Was für falsche Bilder das vermeintlich „Sichtbare“ vermitteln
       kann. Wie Menschen mit sogenannten Behinderungen wegen der unvermeidbaren
       Sichtbarkeit ihres „Andersseins“ bei ihren Gegenüber einen unausweichlichen
       Verarbeitungsprozess auslösen, der in vielen Fällen eine riesige
       Projektionsfläche bildet.
       
       Inzwischen haben wir ein paar Dinge gelernt, etwa wie es ist, zusammen mit
       als behindert markierten Menschen auszugehen. Ob als Freundin oder
       „Einzelfallhelferin“ (was für ein Wort – wir helfen einem Fall!). Für die
       „positive Energie, die wir ausstrahlen“ haben uns Fremde auf der Straße
       Süßigkeiten geschenkt. Mitleid kommt uns unter der Maske Bewunderung („Was
       für eine Lebensfreude, obwohl …“) entgegen. Auch Angst. Und Neugier. Ein
       ganzer Bus schaut auf uns, wie wir miteinander … Großes Kino.
       
       Oder anders: Die Person, mit der wir unterwegs sind, fragt nach der Station
       zum Aussteigen. „Wir geben nichts“, die Antwort. Und jetzt? Raushalten?
       Einmischen? Nur unter uns sind wir teilweise frei von diesen Rollen, nur,
       wenn wir nicht am sozialen Leben teilnehmen. Was für ein Paradox, wenn wir
       an die Definition der Behinderung denken. An diese berüchtigte
       Einschränkung der sozialen Teilnahme.
       
       Was wir bisher kaum gelernt haben, obwohl wir nicht zum ersten Mal über
       Disability & Performing Arts schreiben, ist, darüber zu sprechen, wie es
       ist an der Seite von Menschen mit sichtbarer Behinderung. Nicht mal mit
       ihnen selbst. Weil es wehtut. Das immer nur um ein Thema kreisende
       Wahrgenommenwerden. Die sich daraufhin einstellende Selbstpathologisierung.
       Aber ist es, wie Jo Bannon, eine weitere No-Limits-Festival-Künstlerin,
       fragt, überhaupt jemals möglich, jemanden ganz zu sehen?
       
       Die Antwort auf die Frage ist klar. Das Unsichtbare bleibt. Als
       Unmöglichkeit. Als Ignoranz. Oder auch als Schutzraum, der permanent unter
       Beschuss steht.
       
       12 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Astrid Kaminski
 (DIR) Seda Niğbolu
       
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