# taz.de -- Anhörung zu Demirtaş in Straßburg: Türkische Justiz auf dem Prüfstand
       
       > 17 europäische Richter*innen hörten heute Vertreter*innen der türkischen
       > Regierung und des inhaftierten Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş
       > an.
       
       Meinungsfreiheit und unrechtmäßige Inhaftierung standen heute im
       Mittelpunkt der Anhörung vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in
       Straßburg. Der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş war Vorsitzender der
       Partei der Demokratie der Völker, als er im November 2016 nach Aufhebung
       seiner Immunität als Abgeordneter verhaftet wurde. Seither sitzt er in
       Untersuchungshaft. In einer Vielzahl von Strafverfahren werden Demirtaş
       Propaganda für beziehungsweise Mitgliedschaft in einer terroristischen
       Vereinigung vorgeworfen. Heute hörte die Große Kammer des EGMR mit 17
       Richter*innen die Streitparteien im Beschwerdeverfahren an, das Demirtaş
       noch während des Staatsnotstandes gegen die Türkei angestrengt hat.
       
       Bei der Verhaftung des Beschwerdeführers im November 2016 habe überhaupt
       kein hinreichender Verdacht auf eine Straftat vorgelegen, der die
       Untersuchungshaft begründen würde, so die Völkerrechtsprofessorin Başak
       Çalı, die das Zentrum für Grundrechte an der Berliner Hertie School of
       Governance leitet. Sie ist Beraterin des Verteidiger*innenteams. „Zweitens
       haben wir den Menschenrechtsgerichtshof dazu aufgefordert, die Verletzung
       der Meinungsfreiheit Demirtaş' inhaltlich zu untersuchen“, sagte die
       Juristin nach Verhandlungsende vor dem Gerichtsgebäude. „Drittens muss das
       Gericht seine Bewertung der türkischen Justiz als politisch motiviert
       unbedingt ausweiten und dabei insbesondere die Entwicklungen nach den
       Parlamentswahlen vom Juni 2015 mit einbeziehen.“
       
       Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, verwies als
       Vertreterin der sogenannten Dritten Partei auf die Berichte der
       Venedig-Kommission. Für die unter den Notverordnungen getroffenen Maßnahmen
       dürfe die Türkei nicht in Anspruch nehmen, dass diese als rechtstaatliche
       Enscheidungen durchgehen. Damit ging Mijatovic in unerwarteter Deutlichkeit
       über die traditionell neutrale Position der Dritten Partei hinaus.
       
       Der Bonner Völkerrechtsprofessor Stefan Talmon vertrat die Türkei. Er
       argumentierte, dass Demirtaş die Entscheidungen der inländischen Gerichte
       nicht abgewartet habe, bevor er seine Beschwerde an den EGMR gerichtet
       habe. Zudem sei die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten dadurch
       legitimiert, dass auch die oppositionelle CHP im Parlament dafür gestimmt
       habe. Die Richter*innen Angelika Nussberger, André Potocki und Ksenija
       Turkoviv forderten die türkische Regierung mehrfach dazu auf, den
       Terrorismusvorwurf gegen Demirtaş inhaltlich zu begründen. Insbesondere für
       den erhobenen Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation müsse
       es klare Kriterien geben. Benennen konnten die Vertreter der Türkei diese
       allerdings nicht.
       
       ## Terrorvorwürfe ohne Substanz
       
       „Oppositionelle des Terrors zu beschuldigen ist ein bewährtes Hausmittel“,
       heißt es im Plädoyer des Beschwerdeführers. „Was Demirtaş erleben musste,
       ist jetzt auch Canan Kaftancıoğlu passiert: Nachdem die CHP die
       Kommunalwahlen in Istanbul gewann, wurde die Istanbuler CHP-Chefin
       kurzerhand wegen Terrorpropaganda verurteilt.“
       
       Sezai Temelli, der den inhaftierten Demirtaş als Parteivorsitzender
       ersetzt, misst dem Beschwerdeverfahren nicht nur symbolische, sondern auch
       strategische Bedeutung bei. „Das Regime in der Türkei hat die Justiz in ein
       [1][Instrument zur Niederschlagung] der demokratischen Opposition
       verwandelt. Ich hoffe, dem können wir alle gemeinsam mithilfe dieses
       Verfahrens Einhalt gebieten.“ Auch der Berliner Linken-Abgeordnete Hakan
       Taş war nach Straßburg gereist. Er rechnet mit einer Entscheidung zugunsten
       von Demirtas und allen politischen Häftlinge in der Türkei, und hofft dass
       deren Menschenrechte nicht länger mit Füßen getreten werden.
       
       Eine Urteilsverkündung nach einer mündlichen Anhörung kann laut
       Beobachter*innen zwei bis neun Monate in Anspruch nehmen. Inwieweit sich
       der Verlauf des Straßburger Verfahrens auf die Haftsituation von Selahattin
       Demirtaş und letztlich seine Perspektive, in die Politik zurückzukehren
       auswirken wird, ist allerdings noch nicht abzusehen. Denn vorsorglich hat
       die türkische Justiz ihn mit einer Vielzahl teils schlecht konstruierter
       Verfahren überzogen.
       
       „Selbst wenn Demirtaş morgen freigelassen würde, wäre er aufgrund des
       schieren Umfangs der gegen ihn anhängigen politischen Verfahren und
       Ermittlungen dazu verurteilt, jederzeit mit einer erneuten Verhaftung
       rechnen zu müssen“, mahnten seine Anwält*innen.
       
       Nachdem der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im November 2018 seine
       Inhaftierung für unrechtmäßig erklärte, verurteilte ein türkisches Gericht
       ihn kurzerhand zu einer fast 5-jährigen Haftstrafe. Anfang September 2019
       verfügte ein anderes türkisches Gericht ein Ende seiner Untersuchungshaft.
       Derzeit ist unklar, ob mit einer Haftentlassung des Politikers zu rechnen
       ist.
       
       Mitarbeit: Konstanze Kriese
       
       18 Sep 2019
       
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