# taz.de -- nord🐾 thema: „Schutzsuchende nicht bestrafen“
       
       > Das Seerecht fordert die Rettung von Menschenleben, sagt Dana Schmalz –
       > und doch gibt es meist kein Recht, bestimmte Häfen anzusteuern. Die
       > Regierungen müssen aufhören so zu tun, als könne man verhindern, dass
       > Menschen kommen, so die Jura-Professorin
       
 (IMG) Bild: Ein Boot der italienischen Küstenwache legt am Rettungsschiff „Open Arms“ einer Hilfsorganisation an.
       
       Von Elisabeth Nöfer
       
       taz: Frau Schmalz, immer wieder verweigern Mittelmeerstaaten
       Rettungsschiffen mit Flüchtlingen die Einfahrt in einen sicheren Hafen. Wer
       hat Recht – die SeenotretterInnen oder der Staat? 
       
       Dana Schmalz: Wenn wir darüber reden, ist es gut zu unterscheiden: Was
       müssen Staaten und was dürfen Individuen? Staaten haben Verpflichtungen aus
       dem Völkerrecht. Das heißt, aus dem Seerecht, dem internationalen
       Flüchtlingsrecht und aus Menschenrechtsabkommen. Das müssen wir trennen vom
       nationalen Strafrecht, um das es in Bezug auf die SeenotretterInnen geht.
       Im internationalen Recht besteht eine Pflicht der Seenotrettung. Bei
       SeenotretterInnen stellt sich die Frage, inwieweit diese Pflicht zur
       Rettung auch die Möglichkeit umfasst, die Geretteten an Land zu bringen. Es
       gibt die Pflicht, Gerettete an einen sicheren Ort zu bringen, aber in
       vielen Situationen kommt mehr als ein Staat in Frage. So entsteht ein
       politisches Patt.
       
       Dürfen Staaten SeenotretterInnen daran hindern, die Geretteten an Land zu
       bringen? 
       
       Das kommt auf die konkreten Umstände an. Es gibt nicht per se das Recht,
       einen bestimmten Hafen anzufahren. Das Nothafenrecht gilt nur, wenn das
       Schiff in einer akuten Notlage ist. Zugleich bedeutet die Pflicht zur
       Seenotrettung eben auch, dass ein Hafen angefahren werden muss. Je mehr
       sich die Lage an Bord verschärft, desto weniger Spielraum bleibt, um die
       Einfahrt abzulehnen. So hat im Fall der „Cap Anamur“ ein italienisches
       Gericht 2009 entschieden, dass die Pflichten aus dem internationalen Recht
       es rechtfertigen, in den Hafen einzufahren – selbst wenn nationale Regeln
       es untersagen.
       
       Welche Pflichten haben Staaten gegenüber Schutzsuchenden? Und wie dürfen
       Staaten deren Einreise regulieren? 
       
       Zunächst gibt es in der Genfer Flüchtlingskonvention den Grundsatz der
       Nichtzurückweisung. Das umfasst das Verbot, Flüchtlinge an der Grenze
       abzuweisen. Darüber hinaus besagt das Pönalisierungsverbot in Artikel 31
       der Konvention, dass man Schutzsuchende aus einem Gebiet, in dem Leib und
       Leben bedroht sind, nicht für die irreguläre Einreise bestrafen darf. Es
       wäre absurd zu sagen, einerseits verpflichten sich Staaten, Flüchtlinge zu
       schützen, aber zugleich bestrafen sie Menschen, die den einzig möglichen
       Weg gehen, um diesen Schutz in Anspruch zu nehmen.
       
       Müsste das Seerecht reformiert werden, um angemessener auf die Migration zu
       reagieren? 
       
       Ich denke nicht, dass das der Punkt ist. Das Seerecht fordert die Rettung
       von Menschenleben. Das führt dazu, dass Menschen nach Europa gebracht
       werden, insofern wirkt es wie eine Brücke. Wir sollten auch sehen: wie wäre
       die Situation, wenn es statt dem Mittelmeer eine Landgrenze gäbe? Dann gäbe
       eine Grenze, an der Menschen einen Asylantrag stellen können und an der das
       genannte Verbot der Zurückweisung gilt.
       
       Muss an anderer Stelle reformiert werden? 
       
       Das europäische Recht sollte sich besser darauf einstellen, dass eben ein
       großer Anteil von Schutzsuchenden über das Mittelmeer kommt. Was an den
       Außengrenzen passiert, hängt auch damit zusammen, wie Europa nach innen die
       Verantwortung für Asylsuchende verteilt. Es muss klar sein, dass die
       südlichen Staaten der EU damit nicht allein gelassen werden. Und gerechte
       Verteilungsregeln wären besser als die informellen Mechanismen, die sich
       jetzt entwickelt haben. Das System im Moment ist für die Betroffenen schwer
       zu durchschauen und für Staaten aufwendig.
       
       Was ist mit der „Koalition der Willigen“ aus 14 EU-Staaten, die sich jetzt
       für eine zügigere Aufnahme der im Mittelmeer Geretteten einsetzt? 
       
       Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Koalition ist ein Signal
       und kann dazu beitragen, Geflüchtete nicht so sehr als Last zu
       konstruieren. Derzeit nimmt das Hin- und Hergeschiebe von Personen viel
       Energie in Anspruch. Das ist nicht nur für die Betroffenen eine große
       Belastung, sondern letztlich auch für Staaten. Es wäre für alle ein Gewinn,
       wenn das System einfacher wird. Letztlich kann dabei aber nur ein System
       effizient sein, das auch für die Schutzsuchenden selbst funktioniert. Dafür
       müssen Verfahren transparent und rechtsstaatlich ablaufen und die
       Aussichten auf Anerkennung in den verschiedenen EU-Staaten vergleichbar
       sein.
       
       Das heißt, Migration als Selbstverständlichkeit zu sehen, statt auf
       Abschottung zu setzen? 
       
       Ja, auch das. Regierungen müssen aufhören so zu tun, als könne man
       verhindern, dass Menschen kommen. Der größte Teil der Flüchtlinge und
       Vertriebenen weltweit findet Schutz in den Herkunftsländern oder
       Nachbarländern. Ein kleiner Teil kommt nach Europa. Menschen migrieren aus
       vielen Gründen und es ist richtig, dass dafür verschiedene Rechtsregime
       bestehen. Aber Abschottung ist schlicht keine Lösung. Wir leben in einer
       Welt. Wir können nicht einerseits die Früchte der Globalisierung haben und
       andererseits behaupten, wir hätten keine Verantwortung für alles, was
       jenseits der Grenze liegt.
       
       Das ist eher ein moralischer Aspekt. Aus welchen Gründen entstand die
       Pflicht, dass Staaten Flüchtlingen Schutz bieten müssen? 
       
       Das internationale Flüchtlingsrecht, wie es heute besteht, haben Staaten im
       Wesentlichen nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. Die Grundidee ist aber
       viel älter. Der moderne Staat entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert und
       in dieser Zeit entstand auch der Flüchtlingsbegriff. Als territoriale
       Grenzen wichtiger wurden, entwickelte sich zugleich die Vorstellung, dass
       ausnahmsweise Pflichten gegenüber dem Schutzsuchenden an der Grenze
       bestehen. Immanuel Kant nennt es das „eine weltbürgerliche Recht“, dass ein
       Fremder nicht abgewiesen werden darf, wenn es nicht „ohne seinen Untergang
       geschehen kann“. Die Verantwortung für Flüchtlinge ist also eine sehr
       grundlegende Idee. Dass Menschen in einem Staat gleiche Rechte haben, lässt
       sich gedanklich nicht völlig abtrennen davon, dass gewisse minimale
       Pflichten auch gegenüber denen in Not an der Grenze bestehen – schlicht,
       weil sie Menschen sind.
       
       Was ist der Effekt, wenn die EU oder andere Staaten dennoch auf Abschottung
       setzen? 
       
       Wenn alle Staaten versuchen, ihre Verantwortung aus dem internationalen
       Flüchtlingsrecht gering zu halten oder sie gar zu umgehen, entsteht eine
       Abwärtsspirale. Wir sollten auch den Effekt nicht unterschätzen, wenn
       Staaten sich gegenseitig Geld für das Abhalten von Flüchtlingen zahlen. In
       dem Moment wird ein „Negativwert“ dieser Personen konstruiert. Kurz nach
       dem EU-Türkei-Deal hat Kenia erstmals angekündigt, die großen
       Flüchtlingslager wie Dadaab zu schließen. Auch wenn es immer viele Faktoren
       gibt: Was im Flüchtlingsschutz in der einen Ecke der Welt passiert, hat
       Auswirkungen auf die Praxis in anderen.
       
       Sie sagen, ein Negativwert von Personen würde konstruiert – hat das auch
       gesellschaftliche Folgen? 
       
       Hannah Arendt beschreibt in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler
       Herrschaft“, wie einem absoluten Rechtsentzug oftmals die Konstruktion von
       Menschen als überflüssig voran-geht. Zygmunt Bauman versteht es allgemeiner
       als ein Problem der Moderne, dass Wirtschaft darauf angelegt ist, Überfluss
       zu erzeugen und zugleich Menschen immer einsetzbar sein müssen, um nicht
       überflüssig zu sein. Diese Logik hat den Blick auf Menschen geprägt. Das
       wirkt auch im Zusammenhang mit Migration. Bauman gibt uns eine hilfreiche
       Beschreibung, um zu verstehen, woher der erschütternde Hass und die Angst
       vor Flüchtlingen herrühren. Das heißt nicht, es zu entschuldigen. Aber die
       Angst vor der eigenen Überflüssigkeit kann dazu führen, dass gerade
       diejenigen, die ganz wenig haben und ganz wenig fordern, als größte
       Bedrohung wahrgenommen werden.
       
       14 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Elisabeth Nöfer
       
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