# taz.de -- unter leuten8,7 Millionen Menschen leben in Brandenburg, Thüringen und Sachsen. Hier ist eine von ihnen: Nancy Aris erklärt die DDR und die Spätfolgen der Wende 
       
       „Am 9. November, als die Mauer fiel, lag ich eigentlich schon im Nachthemd
       im Bett“, lacht Nancy Aris. Als die damals 19-Jährige mit übergezogener
       Hose den offenen Schlagbaum der Bornholmer Straße passiert, ist da zuerst
       ein Stich der Enttäuschung. Es wirke, als ob alle den Osten verlassen, um
       nicht wiederzukehren. Dabei wollte sie doch hier alles verändern. Inmitten
       der Menschenmassen aber obsiegt die euphorische Freudenstimmung. Alle
       feiern die Leichtigkeit des Aufbruchs.
       
       Plötzlich gibt es eine Aussicht auf Veränderung. Sie sei zwar keine
       Oppositionelle gewesen, aber Bürgerin mit „persönlichen Grenzlinien und
       Haltung“, so Aris. Früh streut sie „Sand ins Getriebe der DDR“. Später wird
       sie stellvertretende sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der
       SED-Diktatur.
       
       Zu DDR-Zeiten ist es ziviler Ungehorsam im Alltag, mit dem Aris ihre
       Unzufriedenheit ausdrückt. Sie weigert sich, beim Schulsport mit
       Handgranaten zu werfen. Bei der Kommunalwahl 1989 streicht sie alle Namen
       auf dem Wahlzettel durch. Als Jugendliche organisiert sie sich in der
       evangelischen Paul-Gerhardt-Gemeinde in Prenzlauer Berg. Das erste Mal kann
       sie offen mit jungen Gleichgesinnten über gesellschaftlich relevante Themen
       reden. Mit 17 wird sie in den Kirchenrat gewählt. „Auch wenn das jetzt
       nicht die aufmüpfigste Gemeinde war, sprachen wir viel über Fragen der
       Freiheit, über Möglichkeiten, sich zu verweigern. Wir waren anders, wollten
       so sein, wie wir sind. Aber das war in der DDR nicht einfach, wenn man
       ausscherte. Da wurde man zwangsläufig politisiert“, ordnet sie ihre
       Freiheitskämpfe ein.
       
       Seit 2003 beschäftigt sich Aris auch beruflich mit den Folgen der
       SED-Diktatur. „Ich hab meinen Sohn, der war da noch klein, sechs
       vielleicht, zur Wahlauszählung mitgenommen – um ihm zu zeigen, was es
       heißt, eine Wahl zu haben“, schmunzelt sie.
       
       Dass der Osten Demokratie nie gelernt habe und deswegen empfänglicher für
       autoritäre Einstellungen sei, hält Aris für eine zu einfache Erzählung. Was
       aber stimmt, ist, dass sich die DDR-Bürger_innen um nicht viel kümmern
       mussten, es war ja alles geregelt. Viele hätten in vorgezeichneten Bahnen
       gedacht, sagt Aris. Der mündige Bürger wurde von Staatsautoritäten
       „unterbunden“, „sozusagen nach und nach abgeschafft“. 
       
       Politische Kontroversen seien für Bürger_innen mit DDR-Vergangenheit bis
       heute schwerer auszuhalten. „Mir ist aufgefallen, dass ein ganz großes
       Bedürfnis da ist, mit einer Meinung aus dem Raum zu gehen“, sagt Aris.
       Unterschiedliche Haltungen und Diversität könnten kaum akzeptiert werden.
       
       Das Schwarz-Weiß-Denken der AfD bietet eine einfache Ordnung der Welt an.
       Sie sei für viele ehemalige DDR-Bürger_innen vermeintlicher Anker in der
       Überforderung der globalisierten Welt, vermutet Aris. Sich durch
       Komplexität „durchzuwursteln“, kenne der unpolitische
       Durchschnitts-DDR-Bürger schließlich auch gar nicht.
       
       Auch Jugendliche ohne eigene Verlust- und Frustrationserfahrungen hätten
       die Einstellungen ihrer Eltern verinnerlicht. „Das ist ganz eigenartig, ich
       kann das kaum erklären, aber man redet mit jungen Leuten und hat den
       Eindruck, als ob sie heute überhaupt keine Chancen in dieser Welt hätten“,
       sagt sie über Gespräche in sächsischen Schulen. Dabei sei es schlichtweg
       kontraproduktiv, diesen Ballast nutzlos mitzutragen. Vielmehr brauche es
       einen gewinnbringenden Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft. „Man
       sollte nicht nur rückwärtsgewandt gucken, aber man kann Dinge aus dem Hier
       und Jetzt besser erklären, wenn man weiß, woher man kommt.“
       
       Was die Erzählung vom Osten gestalten sollte, sei die Erinnerung an den
       Sturz der Diktatur mit friedlichen Mitteln. Daran, dass Menschen Widerstand
       leisteten und „Dinge, die undenkbar waren, plötzlich dachten und machten“.
       Dann vielleicht, sagt Aris, sei die Leichtigkeit der friedlichen
       Revolution, des Aufbruchs wieder spürbar. Und die wünscht sie sich für die
       gesamte Bundesrepublik. Hanne Tijman
       
       28 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hanne Tijman
       
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