# taz.de -- Die Wahrheit: Ein Sparschwein mit Brille
       
       > Geschichten aus der abenteuerlichen Welt der Optiker und ihrer hackenden
       > Raben: auf der Suche nach einer neuen Sehhilfe.
       
 (IMG) Bild: Rosarot muss sie nicht gerade sein, die neue Brille
       
       Irgendwann war es nicht mehr tragbar: Die ständigen, aus optischer
       Verwechslung geborenen Seitensprünge konterkarierten meine sonst geradezu
       sprichwörtliche Tugendhaftigkeit und gefährdeten massiv meine junge Ehe.
       Ich brauchte unbedingt eine neue Gleitsichtbrille, denn die alte pfiff aus
       dem allerletzten Loch. Wer nicht schlecht sieht, kann sich kaum vorstellen,
       wie elend sich das anfühlt. Am ehesten würde ich es mit dem Dilemma
       vergleichen, dass man unbedingt scheißen muss, aber nicht kann.
       
       Normalerweise suche ich in solchen Fällen das Brillengeschäft Schielmann
       auf. Doch die tastende, flüsternde, blasse, zögerliche, ätherische und
       dabei überaus unnahbare Sterilität der Angestellten schlug mir immer aufs
       Gemüt. Jedes Mal, wenn ich den Laden verließ, hatte mich ihre androgyne
       Leblosigkeit seelisch zutiefst erschöpft. Was ich sonst aus Prinzip nie
       denke, hier dachte ich es doch: „Das sind ja überhaupt keine richtigen
       Männer. Und so was nennt sich Schielmann.“ Über die Mitarbeiterinnen dachte
       ich das Gleiche. Außerdem ist es bei Schielmann stets sauvoll, man muss
       ewig warten und am Ende – ganz entscheidend – ist es gar nicht mal so
       billig.
       
       So war ich froh, als ich auf einer Party mit einer anderen Brillenschlange
       ins Gespräch kam, und mich, Partythema Nummer eins unter Fehlsichtigen, mit
       ihr über Sehhilfen austauschte. Außenstehende hätten nur Bahnhof
       verstanden, als wir uns die technischen Daten unseres Maulwurfquartetts
       routiniert um die Brillenbügel schlugen: Kurz- und Weitsichtigkeit,
       Augenabstand, Hornhautverkrümmung, Gleitsicht, Entspiegelung, Anzahl der
       Dioptrien, Schielmann oder Jawollo-Optik. „Vergiss Schielmann!“, riet mir
       die freundliche Blindschleiche und empfahl mir eine sagenhaft billige
       Brillenklitsche: Doctor Look.
       
       Die nächstgelegene Filiale befand sich am Alexanderplatz. Dort empfing mich
       ein eher hemdsärmelig aufgestellter Mitarbeiter, volksnah und robust. Mit
       den feingliedrigen Leisetretern von Schielmann hatten die hier wenig
       Ähnlichkeit. Sie wirkten vielmehr wie ehemalige Wachschutzmitarbeiter, die
       in Rekordzeit auf Discount-Optiker umgeschult hatten. Walkie-Talkie,
       Taschenlampe und Schlagstock hatten sie in die Ecke gestellt, um nach
       Phoropter und winzigen Schraubendrehern zu greifen. Statt T-Shirts mit der
       Aufschrift „Thor Steinar“ trugen sie welche mit dem Logo von Doctor Look,
       einem lächelnden Sparschwein mit Brille, und auch rhetorisch hatten sie
       dazugelernt: Anstelle von „Versuch das noch einmal, und ich brech dir den
       Arm“, lautete das modifizierte Kundengespräch nun: „Versuchen Sie bitte die
       unterste Reihe noch einmal zu lesen.“
       
       ## Augenklappe, die erste
       
       Seit unser reiches Land auch noch die letzten Feigenblätter einer
       angeblichen Solidargemeinschaft auf den Kompost gepfeffert hat, bedeutet
       das für viele: keine neuen Zähne und keine neue Gleitsichtbrille. Die hier
       aber würde ich mir locker leisten können. Bis zum Monatsende boten sie ein
       einfaches Modell zum Aktionspreis von hundertzwanzig Euro an. Das war
       unschlagbar. Bei Schielmann hätte ich für dasselbe Geld noch nicht mal eine
       Augenklappe bekommen.
       
       Nachdem ich mir aus der reichhaltigen Palette der Ein-Euro-Gestelle eines
       ausgesucht hatte, bat mich einer der frischgebackenen Optikergesellen zum
       Sehtest. Mit verschiedenen Gläserstärken gingen wir die Buchstabentafel
       durch. An der untersten Reihe blieb ich jeweils hängen. „Versuch das noch
       einmal, und ich brech dir den Arm“, sagte er in Gedanken versunken.
       
       „Wie bitte?“
       
       „O, entschuldigen Sie – ich meinte: Versuchen Sie die unterste Reihe noch
       einmal und …“
       
       „… und was?“
       
       „… und ich brech Ihnen den Arm. Bitte.“ Nun, mussten wir beide herzlich
       lachen. Vor allem über das „bitte.“ Wie selbstironisch er sich und seine
       Spießgesellen auf die Schippe nahm und mich gleichzeitig zur Eile drängte.
       Bei Schielmann hätte es das nicht gegeben, die gingen ja zum Lachen in den
       Keller mit den Kassengestellen. Zügig waren wir fertig, und zwei Wochen
       später konnte ich die neue Brille abholen.
       
       ## Ja, wir sind mit dem Nasenfahrrad da
       
       Sehen konnte man damit leider nicht besonders. Das hatte ich in der ersten
       Freude über den guten Preis gar nicht so gemerkt, jetzt aber machte sich
       Ernüchterung breit. Der obere Part für die Kurzsichtigkeit war eher zu
       stark. Die Augen ermüdeten schnell, und der Reiz, meine Mitmenschen auf
       größere Entfernung nackt und von nahem als Skelette zu sehen, war rasch
       verflogen. Der Lesebereich wiederum wirkte schwach und eingeengt, so dass
       ich auf der Lesebühne nur noch so tat, als läse ich vom Blatt ab, während
       ich die Texte in Wahrheit frei improvisierte. Zum Glück merkte keiner was,
       die hörten eh nie richtig zu.
       
       Gern hätte ich die Brille zurückgebracht und auf Nachbesserung bestanden.
       Doch ich hatte Angst vor den robusten Umgeschulten. Wer weiß, was in denen
       noch alles schlummerte. Wenn ich mich beschwerte, würden die mir womöglich
       ihre winzigen Schraubenzieher bis zum Schaft in den Wanst rammen und
       zweimal umdrehen.
       
       Oder, schlimmer noch, sie brächten mich in den Keller der Filiale. Dort
       erwartete mich auf einem Thron aus Knochen (oder Brillengestellen – so
       genau konnte ich das in dem diffusen Licht nicht ausmachen) ein vielleicht
       hundert, vielleicht tausend Jahre alter Wizard in einer dunkelgrauen Kutte
       aus grobem Sackleinen: Doctor Look.
       
       ## Nevermore!
       
       Auf seiner Schulter saß ein Rabe. Der Alte hob seinen Blick unter der
       Kapuze und starrte mich mit weißen Augen, denen die Pupillen fehlten,
       prüfend an. Er sah mich nicht und sah doch alles. „Die Brille ist gut“,
       krächzte er sein Urteil; der Rabe erhob sich von seinem Platz und hackte
       mir blitzschnell beide Augen aus. Hätte ich vorher genauer hingesehen,
       hätte ich die zahlreichen Blutspritzer an den Wänden und auf dem Kittel des
       Firmengründers wahrgenommen. Nun war es zu spät.
       
       Jedenfalls waren es Gedankenspiele wie dieses, die mich von einer
       Reklamation Abstand nehmen ließen. Bei Schielmann hingegen wäre ich
       selbstbewusst in den Laden gestürmt und hätte laut „Heho“ gerufen. „Heho,
       mit meiner Brille stimmt was nicht! Jetzt aber frisch ans Werk, ihr
       Pfuscher!“
       
       Die stillen Menschen wären furchtsam zusammengezuckt. Sie vertrugen keinen
       Lärm, kein Licht, keine Gerüche, keine plötzlichen Bewegungen und keine
       Farben. Alles, was den fahlen Einklang ihrer temperamentlosen Parallelwelt
       aufbrach, verstörte sie. Und so hätten sie alles getan, um den Eindringling
       zufriedenzustellen, damit er wieder verschwände. Für den Kunden ein nicht
       zu unterschätzender Vorteil.
       
       5 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uli Hannemann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Brille
 (DIR) Optiker
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) SUV
 (DIR) 5G-Technologie
 (DIR) Cornelia Wockel
 (DIR) E-Roller
 (DIR) Bildungspolitik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Schleierhaft mit Geisteskraft
       
       Wegen der Masken sind Spaziergänge ein Schleiertanz geworden. Übers
       Herumtappen im städtischen Nahbereich.
       
 (DIR) Die Wahrheit: In der Geisterbahn
       
       Nach dem Horror-Unfall eines SUV in Berlin: Der „Welt“-Chefredakteur Ulf
       Poschardt rettet das Auto vor den Latzhosen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Fünffach verraten und verkauft
       
       Auf der Suche nach jener böse strahlenden Kraft, die stets das Böse will
       und stets das Böse schafft: Das neue Mobilfunknetz 5G befeuert Verschwörer.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Blutjunge Wirtschaftswunderleute
       
       Wenn die „SZ“ eine Klimaaktivistin am Wickel hat, trifft antilinke Position
       auf Dyskalkulie und blinde Staatsgewalt auf Geschichtsvergessenheit.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Blutzoll für den Straßenspaß
       
       Nach den Elektrotretrollern wird der Berliner Verkehrs-Andi bald
       ministeriell alles, einfach alles erlauben – selbst Panzer für Jugendliche.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Uli-Schnulli macht den Ärmchentest
       
       Nicht nur Doktortitel werden aberkannt. Wer nachträglich bei der
       Schulreifeprüfung versagt, hat ernste Konsequenzen zu tragen.