# taz.de -- Die Wahrheit: Attacke, Täuschung und Flucht
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (81): Der Dunkle
       > Wiesenknopf-Ameisenbläuling lebt in seltsamen Verhältnissen.
       
 (IMG) Bild: Der Bläuling und der Wiesenknopf – eine Liebe fürs Leben
       
       Das Bundesamt für Naturschutz informiert: „Der gefährdete Dunkle
       Wiesenknopf-Ameisenbläuling pflegt eine enge Beziehung zum Großen
       Wiesenknopf, dessen Blüten ihm als Nahrungsquelle, Schlaf- und Ruheplatz
       sowie zur Balz, Paarung und Eiablage dienen. Als Raupe frisst er zunächst
       an den Blüten des Großen Wiesenknopfs, lässt sich aber nach der dritten
       Häutung von der Pflanze fallen und von der Roten Knotenameise in ihr Nest
       tragen. Dort verbringt er die Zeit bis zu seiner Verwandlung zum
       Schmetterling im nächsten Sommer und ernährt sich währenddessen von
       Ameisenbrut.“
       
       Der Naturfilmer Jan Haft besitzt einen Hof bei München mit einer
       Feuchtwiese, über die er ein Buch schrieb („Die Wiese“, 2019). Auf ihr
       wächst „ein kleiner Bestand des Großen Wiesenknopfs. Eine hochwüchsige,
       aber unscheinbare Pflanze mit kugeligen, weinroten Blütenköpfchen, in denen
       dich gedrängt viele kleine Einzelblüten sitzen.“ Dort beobachtete er
       mehrere Wiesenknopf-Ameisenbläulinge, ihre Flügel sind „oberseits
       braunblau, unterseits eher grau“.
       
       Die Rote Knotenameise baut ihre Nester laut dem „Naturführer“ auf
       Feuchtwiesen. „Bei Überschwemmung bildet sie mit anderen Arbeiterinnen
       Kugeln, um zu schwimmen.“ Die vom Großen Wiesenknopf auf den Boden
       gefallenen Schmetterlingsraupen werden dann aufgrund einer „chemischen
       Tarnkappe“ von den Ameisen für ihren Nachwuchs gehalten – und in ihre
       Larvenkammer getragen.
       
       Wo entweder der Große Wiesenknopf oder die Rote Knotenameise verschwinden,
       gibt es auch keinen Wiesenknopf-Ameisenbläuling mehr. Nun haben aber die
       Pflanze und die Ameisen auch noch Beziehungen zu anderen Lebewesen: der
       Wiesenknopf zu Mikroorganismen und Pilzen im Boden und die Knotenameise,
       ein „Allesfresser“, vor allem zu Blattläusen, die sie „melkt“. All das und
       noch viel mehr müsste man berücksichtigen, wollte man die Ökologie dieses
       Schmetterlings erfassen.
       
       Unsere Wissenschaftstradition hat uns jedoch auf Arten, ihren Platz in der
       „Ordnung der Natur“ und höchstens noch auf Individuen geprägt. Ganz anders
       die Waldindianer am Amazonas. Der US-Biologe David G. Haskell erwähnt („Die
       verborgenen Netzwerke der Natur. Der Gesang der Bäume“, 2017) die Waorani:
       „Sie konnten, auch wenn man sie im Gespräch dazu drängte, keine einzige
       ‚Baumart‘ benennen, ohne zugleich den ökologischen Kontext zu beschreiben.“
       
       ## Trennung überwinden
       
       Solch ein Denken findet man auch bei japanischen Gartenbauern, deren
       Buddhismus beziehungsweise Shintoismus nicht auf Trennung (von Pflanzen,
       Pilzen, Tieren und Menschen) aus ist und sowieso „die Grenzen zwischen
       Mensch, spiritueller Welt und ‚Natur‘ für eine Illusion hält.“ Haskell will
       es ihnen forschend nachtun, zwar ist er „dazu verdammt, ein Individuum zu
       sein“, folgt aber dennoch einer „Ethik der Verbundenheit“. Er schreibt:
       „Die Zukunft eines Individuums ist in keinem Selbst enthalten, nicht im
       Baumsamen und nicht im menschlichen Gehirn, sondern entwickelt sich vor
       allem aus lebendigen Beziehungen.“
       
       Goethe und die deutschen Romantiker haben ähnlich „ganzheitlich“ gedacht
       und vielleicht auch empfunden, mindestens geht der „Naturschutzgedanke“ auf
       sie zurück. Die Pariser Schriftsteller Honoré de Balzac und Marcel Proust
       haben dagegen im 19. Jahrhundert mit ihren „Sittengemälden“ eine
       „Naturgeschichte des Sozialen“ verfasst, indem sie „die Leitmotive der
       [alten] Naturgeschichte umkehrten“, wie der Wissenssoziologe Wolf Lepenies
       in seinem Buch „Das Ende der Naturgeschichte“ aus dem Jahr 1972 schreibt.
       
       Dabei sind sie gewissermaßen arbeitsteilig vorgegangen: „Während der
       Sittenarchäologe Balzac die Zoologie, den beweglichen Teil der
       Naturgeschichte, zum Vorbild wählt, betrachtet Proust die immobile
       ‚menschliche Flora‘ und versteht sich als einen ‚Botaniker der psychischen
       Welt‘. Erst am Ende seiner ‚Recherche‘ wird Proust zum Zoologen der
       Gesellschaft.“
       
       Auch hierbei gibt es eine Arbeitsteilung: „Balzacs ‚Comédie humaine‘ ist
       die Zoologie der höheren Säuger, die ‚Recherche‘ die Zoologie der niederen
       Tiere, insbesondere die der Fische und Insekten.“ Proust spricht von einer
       „Metamorphose“ des Fürsten von Agrigent im Alter, „als sei die dürftige
       Falterpuppe, die mir vorher bekannt war, inzwischen aufgeplatzt“. Balzac
       interessieren „Evolutionen im vor-darwinschen Sinn und Übergänge zwischen
       den Arten. Proust wendet dagegen seine Aufmerksamkeit Prozessen des Alterns
       und Metamorphosen zu, ohne dabei die Artgrenzen zu überschreiten.“
       
       Wenn Balzac ein Zoologe ist, „dann bildet die ‚Comédie humaine‘ eine
       Menagerie; die ‚Recherche‘ hat demgegenüber eher Ähnlichkeit mit einem
       Aquarium oder Terrarium.“ Lepenies muss dabei an Jean-Baptiste Lamarcks
       „Theorie des Milieus“ (1809) denken, was mit „Medium“ übersetzt wurde,
       woraus der Biologe Uexküll 1909 eine „Umwelttheorie“ machte.
       
       ## Flanierraum Zoo
       
       In der Menschenforschung sind Tiervergleiche inzwischen aus der Mode
       gekommen. Im Westberliner Zoo gibt es dafür beides auf einem Flanierraum:
       Großgehege und Terrarien. Im Ostberliner Tierpark das Gleiche noch einmal,
       da beide im Darwin’schen Sinne auf Restlosigkeit erpicht sind. Die
       Aktiengesellschaft Zoo wirbt sogar damit, die meisten Tierarten auf
       engstem Raum zu besitzen, und hält zum Beispiel tropische
       Blattschneiderameisen hinter Glas. Allerdings keine Schmetterlinge, diese
       werden massenhaft unter anderem im Gewächshaus der „Naturwacht“ in
       Marienfelde gezüchtet – und nach dem Schlupf freigelassen. Es handelt sich
       um Ligusterschwärmer, Kleiner Fuchs, Schwalbenschwanz, Tagpfauenauge und
       C-Falter.
       
       Ein Dunkler Wiesenknopfameisenbläuling mit seiner Pflanze und seinen
       Ameisen lässt sich wahrscheinlich nicht züchten. Dafür ist er „berühmt“.
       Aber deswegen enden die meisten Betrachtungen dieses Schmetterlings auch
       mit einer Klage, dass die hiesigen Wiesen immer weniger werden, dazu düngt
       man sie mit Gülle und Chemie, drainiert sie und mäht sie vier bis fünf Mal
       im Jahr. All das vernichtet sowohl die Pflanze, die zu den Rosengewächsen
       zählt, als auch die Ameisen. Deswegen steht der Dunkle
       Wiesenknopfameisenbläuling bereits auf der „Roten Liste“, wie der
       baden-württembergische Nabu mitteilt.
       
       Sein Beziehungsnetz sei sehr „riskant“, das heißt zerbrechlich, „denn es
       besteht immer die Gefahr, dass eine Raupe von einer Ameisenart, auf die der
       Duftcocktail nicht wirkt, von Vögeln oder anderen Feinden entdeckt wird –
       oder unentdeckt verhungert. Wird eine Raupe aber von der Rotgelben
       Knotenameise adoptiert, hat sie ausgesorgt.“
       
       Jedenfalls die nächsten 25 Tage bis zum Schlupf. „Danach müssen die
       geschlüpften Falter so schnell wie möglich den Ameisenbau verlassen, da sie
       ihre Gastgeber nun – ohne Duftdrüsen – nicht mehr täuschen können. Als
       Schutz gegen die Attacken der Ameisen ist der ganze Körper der Falter mit
       wolligen Schuppen bedeckt, die in den Kiefern der Angreifer zurückbleiben,
       wenn sie zubeißen.“
       
       Hört sich an wie die Flucht aus einer WG. Aber rät uns nicht sowieso der
       Erfurter Biologe Karsten Brensing, die Tiere zu vermenschlichen, um sie
       besser zu verstehen?!
       
       29 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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