# taz.de -- Das Ende der Geschichte?
       
       > In Ersan Mondtags „De Living“ am HAU, der neuesten Inszenierung des
       > jungen Theaterstars, die es zur Aufführung in dessen Heimatstadt gebracht
       > hat, bricht eine Frau aus der Wiederkehr des Gleichen aus
       
 (IMG) Bild: Frau im Spiegel ihrer selbst: eine Szene aus „De Living“
       
       Von Sascha Ehlert
       
       Langsam bilden sich im Wasserhahn die Tropfen, bevor sie in das Becken
       klatschen: Tock ..., To ..., Tock. Die Zeit dehnt sich und wird nichtig,
       schaut man so einem Schauspiel nur lange genug zu. Ganz ähnlich verhält es
       sich mit „De Living“, oder zu Deutsch: „Das Wohnzimmer“, der neuesten
       Inszenierung von Ersan Mondtag, die es auf eine Berliner Bühne geschafft
       hat. Nachdem er am Berliner Ensemble und am Gorki inszenierte, hätte
       zuletzt eigentlich Mondtags dystopische Horrorvision „Das Internat“ beim
       Theatertreffen gezeigt werden sollen. Das Gastspiel blieb allerdings
       aufgrund mutmaßlicher „Schwierigkeiten bei der Termin- und
       Spielstättenfindung“ aus, den 3sat-Preis des Theatertreffens erhielt
       Mondtag in diesem Jahr dennoch.
       
       Folgerichtig ist das HAU2 zur Deutschland-Premiere von „De Living“ bis auf
       den letzten Platz gefüllt. Dabei ist die Koproduktion mit dem momentan vom
       Schweizer Theatermacher Milo Rau geleiteten NT Gent im Vergleich zu einem
       überbordenden visuellen Spektakel wie „Das Internat“ eine „kleine“ Arbeit:
       zwei Performerinnen – die Zwillinge Doris und Nathalie Bokongo Nkumu, die
       bislang vor allem tänzerisch gearbeitet haben –, ein Bühnenbild, eine
       Soundkulisse, kein Text. Inhaltlich allerdings könnten die Fragestellungen
       kaum größer sein.
       
       An der Oberfläche erzählt „De Living“ die Geschichte einer Frau am Ende.
       Sie trinkt, sie vergräbt das Gesicht in den Händen, schließlich legt sie
       ihren Kopf in den Herd und dreht den Gashahn auf. Während sie auf der
       rechten Seite der Bühne noch tot liegt, kehrt sie aber bereits auf der
       linken lebendig zurück. Wir steigen sozusagen zum zweiten Mal in ihr Leben
       ein, aber diesmal eine Weile vor ihrem Selbstmord, so scheint es zumindest.
       Da die Frau nicht spricht und in ihrem Wohnzimmer nur Alltägliches erledigt
       – sich die Nägel lackieren und Schnaps trinken zum Beispiel –, erzählt
       dieser Abend vor allem über das Bühnenbild und über die Soundkulisse.
       
       Letzterer entnehmen wir ein dystopisches Weltuntergangsszenario:
       Bombenalarm-Sirenen, monotone Sounds und Düsternis bestimmen die 80
       Minuten. Zu sehen ist zweimal dasselbe Wohnzimmer. Spartanisch
       eingerichtet: Tisch, Stuhl, Küche, Vogelvoliere, ein Gemälde und keine
       Fenster. Während draußen die Welt untergeht, herrscht in den Wohnzimmern
       die meiste Zeit (scheinbare) Idylle: Vogelgezwitscher, die Tapete zeigt
       florale Muster. Ist also vielleicht das Drinnen eigentlich Draußen, oder
       umgekehrt?
       
       Der Bühnenraum macht widersprüchliche Lesarten möglich. Einerseits knüpft
       Mondtag an traditionelle Dystopien an, wenn er zeigt, wie die zweite
       Version der Frau offenbar von der Arbeit in der kaputten Welt da draußen
       nach Hause kommt und trotzdem weiterhin überwacht wird – durch das Publikum
       –, während sie ihre triste immergleiche Feierabendroutine durchläuft.
       Andererseits greift er mit einem einfachen, aber effektiven Schachzug die
       belgische Kolonialgeschichte auf. Sowohl in Version 1 als auch Version 2
       des Wohnzimmers blickt von einem Gemälde herab: Leopold II., der als König
       Belgien regierte und als Kolonialherr in der heutigen Demokratischen
       Republik Kongo im endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert für die
       Ausbeutung, Folter und Ermordung von Millionen von Menschen
       hauptverantwortlich war. Vielleicht ist es also auch der Blick des
       grausigen Herrschers, der von Joseph Conrad in „Das Herz der Finsternis“
       verewigt wurde, der die Frau in den Selbstmord treibt? Oder ist es der
       Geist der langen Jahre der Unterdrückung, der die Frau auch Jahrzehnte nach
       dem Ende des (alten) europäischen Kolonialismus verfolgt?
       
       Aufgrund des nahezu kompletten Verzichts auf Sprache – man hört einzig
       mehrfach die Stimme von Bill Withers, er singt „Ain’t No Sunshine“ – liest
       man diesen Abend anders, je nachdem, welchem der vielen Zeichen – unter
       anderem gibt es auch Pop-Art-Referenzen zu entdecken, während das Stück
       ganz grundsätzlich frappierende Ähnlichkeiten zu Franz-Xaver Kroetz’ 1971
       geschriebenem und ebenfalls wortlosen „Wunschkonzert“ aufweist – man am
       meisten Gewicht zuspricht. Und natürlich: je nachdem, welche man erkennt.
       Das Zusammenspiel aus der stoischen Performance der Zwillinge, der
       scheinbar biederen Idylle des Bühnenbilds, der drohenden Soundkulisse und
       dem Sinn der Regie für das Einbinden unseres Geruchssinns – mal riecht es
       nach Gas, dann wieder nach Nagellack im Zuschauersaal – kreiert eine
       interessante, weil differenzierte Erfahrung.
       
       Ganz und gar eindeutig und damit ein wenig zu schlicht im Angesicht der
       vielschichtigen Erzählung, die Mondtag mit seiner zäh fließenden Arbeit in
       den 80 Minuten zuvor aufmacht, ist das Ende: die Protagonistin erkennt den
       ewigen Kreislauf der Unterdrückung, in den sie wieder und wieder geworfen
       wird, und entdeckt den Ausgang. Sie hängt Leopold ab und verlässt den
       Guckkasten, über den das Publikum sie beim Leiden begaffte, durch den
       Haupteingang, in Richtung Freiheit. So einfach wird niemand die
       Nachwirkungen Jahrhunderte andauernder Unterdrückung und den Kreislauf des
       Ewiggleichen hinter sich lassen können.
       
       Wieder heute, 20 Uhr, HAU2
       
       13 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sascha Ehlert
       
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